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Ein perfekter Freund

Ein perfekter Freund

Titel: Ein perfekter Freund
Autoren: Martin Suter
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Jacketts und Hosen.
    »Welcome back«, sagte sie. Sie legte ihm die Hände auf die Schultern und küßte ihn.
    So gut es ging mit Lippen wie nach dem Zahnarzt, wenn die Spritze noch wirkt, küßte Fabio zurück. Ihr Mund war weich und ihre Zunge schmiegsam. Doch sosehr er sich auch anstrengte, der Kuß brachte keine Erinnerung zurück.
    Er öffnete die Augen und sah, daß auch Marlen sie geöffnet hatte.
    »Vielleicht brauchst du mehr Zeit«, flüsterte sie.
    Die Hitze hielt Fabio wach. Er lag auf dem Rücken und starrte an die niedrige Decke. Neben ihm lag Marlen in einem züchtigen Pyjama und schlief wie ein Kind. Das Fenster stand offen, die Nacht hatte die Luft kaum abgekühlt. Eine Straßenlaterne warf ein Rechteck bläulichen Lichts an die Wand. Ganz selten fuhr langsam ein Auto vorbei.
    Eine von Fabios frühsten Kindheitserinnerungen war ein fremdes Zimmer: Sommerferien in Urbino vor bald dreißig Jahren. Sie wohnten im Haus der Großmutter. Fabio war mitten in der Nacht erwacht, und alles war fremd. Das Bett, das Licht, der Geruch, die Geräusche. Er fing an zu weinen, aber niemand kam. Er kletterte aus dem Bett und fand die Tür. Das Haus war still und dunkel. Er irrte heulend durch die fremden Räume, fand die Haustür und ging hinaus. Im Garten hörte er Stimmen. Seine Eltern, die Großmutter und ein paar fremde Leute saßen an einem Tisch, tranken und schwatzten. Er rannte schluchzend zu seiner Mutter und trommelte mit den Fäusten auf sie ein. Alle lachten.
    Fabio stand leise auf und ging auf die Toilette. Er hatte es am Abend vermieden, sie zu benützen. Es war ihm unangenehm gewesen, sie befand sich im Badezimmer. Er spülte zweimal und öffnete das Fenster weit.
    Im Spiegel über dem Waschbecken betrachtete er sein Gesicht. Vom Bluterguß am rechten Auge war nur noch eine gelbliche Verfärbung übrig. Der Riß in der Kopfhaut war mit ein paar schwarzen Fäden genäht, die bereits von den Stoppeln der nachwachsenden Haare überwuchert wurden. Die kleine Stelle, an der man ihm die Hirndrucksonde eingesetzt hatte, war kaum mehr zu sehen. Die rechte Gesichtshälfte fühlte sich noch immer fremd an. Und fremd kam ihm auch der Mann in Boxershorts und weißem T-Shirt vor. Er paßte nicht in das Dekor aus unvertrauten Tuben, Töpfchen und Flakons.
    Auf einem dreibeinigen Hocker neben dem Waschbecken lagen Fabios Sachen: elektrische Zahnbürste, Nagelschere, Kamm, Bürste, Elektrorasierer, Aftershave-Gel und Eau de Toilette. Auch sie wirkten fehl am Platz.
    Fabio ging in die Küche, nahm ein Glas aus dem Schrank, füllte es mit Leitungswasser und trug es auf den Balkon. Er stellte sich an die Brüstung und starrte in die Sommernacht.
    Zwei Birken standen an der Grenze zum Nachbargrundstück. Ihre Stämme fluoreszierten im Mondlicht.
    Von einem Balkon über ihm drangen gedämpfte Stimmen, hie und da von kurzem Auflachen unterbrochen.
    Eine Katze ging über den Rasen. Fabio nahm einen Schluck Wasser. Die Katze sah die Bewegung, blieb stehen, schaute zu ihm herauf und ging weiter. Beim Kinderspielplatz schnüffelte sie im Sandhaufen, buddelte ein Loch, kauerte sich darüber, scharrte im Sand und ging weiter.
    Fabio hätte sich gerne eine Zigarette angesteckt. Dabei hatte er nie geraucht.
    Am Morgen hörte er Marlen aufstehen und stellte sich schlafend. Sie hatte ihm gesagt, daß sie am nächsten Tag wieder arbeiten müsse. Er wollte warten, bis sie das Haus verlassen hatte.
    Die Dusche lief und wurde abgedreht. Etwas später ging leise die Tür zum Schlafzimmer auf. Sofort füllte sich der Raum mit dem Duft ihres zu damenhaften Parfüms. Chanel 5, wie er jetzt, wo sie das Badezimmer teilten, wußte. Er hörte, wie sie sich am Schrank zu schaffen machte, und öffnete die Augen einen Spalt. Im hohen Wandspiegel sah er sie vor dem Schrank stehen. Auf ihren kleinen Pobacken hatte die Sonne ganz schwach einen Slip abgezeichnet. Über ihren schmalen Hüften sah man noch den Abdruck des Pyjamagummizugs. Sie hatte in jeder Hand einen Kleiderbügel mit einer Bluse.
    Gerade als Fabio die Augen ganz öffnete, drehte Marlen sich um und ging zum Spiegel. Sofort schloß er sie wieder.
    Als er sie wieder vorsichtig öffnete, hatte sich Marlen für eine Bluse entschieden. Sie war gerade lang genug, um ihn im unklaren zu lassen, ob auch die Entscheidung für ein Höschen inzwischen gefallen war.
    Auf der Frühstückstheke lag ein Zettel. 10 Uhr 30 Steinhofstraße 23, 1. Stock, Dr. Vogel stand darauf in einer runden
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