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Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)

Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)

Titel: Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)
Autoren: Volker Ferkau
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1. Teil
     
     
    1
     
    Frank Wille kann nicht mehr. Er stolpert zur Lampenstube wie ein geriatrischer Gaul. Sein Rücken schmerzt, seine Beine sind schwer wie Blei und in seinem Schädel pocht es, als sauge das Schmidtsche Gerät ihm donnernd und fauchend den Lebenssaft ab. Seine Hand ist in Plastik gewickelt.
    Es geschah vor einer halben Stunde.
    Da brauchte einer Hilfe. Und wenn jemand Hilfe benötigt, ist Frank zur Stelle. Er schiebt sich in einen Spalt, der gut abgestützt ist. Dort sollen neue Steckdosen montiert werden. Es ist nicht seine Sache, aber zuschauen mag er nicht. Er packt stets mit an, denn er ist einer von ihnen. Keiner, wie Schotterbein es war, der noch den Steigerstock schwang, sondern ein moderner Vorgesetzter, wie man ihn sich wünscht.
    » Gib mal her«, sagt er zu dem jungen Bergmann, der bald seinen Hauerbrief machen wird. Das schwarzölige Gesicht sieht ihn an, schneeweiße Augen im Ruß. »Du musst ...«
    Es kracht im Gestein, und als Frank seine Hand zurückziehen will, hält etwas sie fest, als wolle es die Finger fressen. Der Schmerz kommt erst ganz allmählich. Aber dann umso grausamer. Ein verkanteter Stein ist auf seine Hand gerutscht, nicht allzu schlimm, wenn man die schweren Handschuhe trägt, aber die hat Frank ausgezogen, um besser greifen zu können.
    Der Stein zerquetscht ihm einen, vielleicht auch zwei Finger zu Brei, wie eine Schraubzwinge. Erbarmungslos, denn auf ihm lastet das gesamte Hangende, sechshundert Meter Felsen.
    Der junge Bergmann, Francino heißt er, ruft aufgeregt: »Komme Sani, komme Sani!«
    Frank steckt fest und er überlegt, bevor er von Schmerzen geschüttelt wird, ob man ihm die Finger abschneiden muss, um die Hand wieder freizukriegen, und es bekommt es mit der Angst zu tun.
    Kumpel rennen hin und her, alle rufen, Blut fließt aus dem Stein und Frank hat das Gefühl, der Schmerz zerreißt ihn. Er hat manches gesehen, auch, wie Kumpel tödlich verunglückten, und immer wunderte er sich, wie ruhig sie alle blieben. Auch bei ihm ist das so. Man schreit, man kreischt seinen Schmerz nicht hinaus, sondern beißt die Zähne zusammen. Man will die Furcht nicht noch größer machen, jene Furcht, die in jedem von ihnen lauert, denn man könnte der Nächste sein, der sich etwas antut.
    Er zuckt, als stecke er in einer unter Strom stehenden Steckdose fest und heult in sich hinein, als zwei Sanitäter da sind. Sie reißen die Koffer auf und einer von ihnen blickt Frank an und sagt: »Ganz ruhig atmen, Steiger. Ganz ruhig.«
    Frank stößt einen gutturalen Laut aus.
    »Liebe Güte, wie kriegen wir die Finger da raus?«, fragt der andere Sani.
    Also wird man sie ihm abschneiden. Dafür gibt es eine spezielle Zange, weiß Frank. Zapp! Ab! Dann abbinden und los ins Krankenhaus.
    Zynisch denkt er: Wie es auch kommt, es werden sechs Monate sein! Sechs Monate ohne Pütt, dafür mit Garten und einer Lotte, die sich rührend um ihn kümmert. Zwei Finger sind kein zu hoher Preis für sechs Monate Ruhe und Frieden.
    Aber es handelt sich um die rechte Hand. Die, mit der man Buchseiten blättert und sich den Hintern abwischt. Nein, da möchte er seine Finger behalten.
    Und so geschieht es. Man hebelt den Stein hoch, bohrt dahinter, während Frank eine Spritze in den Handballen bekommt. Alles wird taub, er spürt nichts mehr, dafür ist ihm schlecht und es dreht sich. Dann sind die Finger frei. Sie sehen aus wie zerhackte Würste.
    » Das kriegen wir hin, Steiger«, tröstet der eine Sani. »Bleiben vielleicht etwa steif, aber das kriegen wir hin. Kann man alles nähen und richten.«
    Frank nickt und der Schweiß läuft ihm übers Gesicht. Er wird bandagiert. Eine wasserdichte Plastikfolie wird drumgewickelt.
    Sie nehmen den nächsten Korb nach oben. Immer noch ist alles taub. Er hat keine Hand mehr, meint er, denn sie ist ohne Gefühl. Ob er will oder nicht, aber er muss duschen. Die Folie ist wasserdicht und wird halten, verspricht man ihm. Er soll sich beeilen. Bevor er umkippt. Er beeilt sich, obwohl seine Beine wackelig sind. Er muss sich sputen, denn die Sanis warten draußen, um ihn ins Krankenhaus zu bringen.
    Oskar ist mit ihm ausgefahren, um auf ihn aufzupassen. Er ist ein echter Freund, der Dicke. Er ist neben ihm und schüttelt den Kopf. »Frank, du machst dich kaputt. Wann kapiertste endlich, dasse nich mehr lange durchhältst.«
    Frank grinst hart und weicht Oskars Blick aus. Sie kennen sich seit ungefähr dreißig Jahren und er kann seinem Freund nichts vormachen.
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