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Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)

Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)

Titel: Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)
Autoren: Volker Ferkau
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tragen.
    Ein Bergmann dieses Alters ist ein Methusalem. Zu oft ein kranker Methusalem, einer der dennoch hofft, achtzig zu werden. Denn das ist das magische Alter. Jeder will es erreichen. Achtzig!
    Die Muskeln, die Gelenke, und vor allen Dingen die Lunge sind geschädigt. Man nennt die Krankheit Silikose, die durch Inhalation und Ablagerung von mineralischem Staub verursacht wird. In Folge einer Fremdkörperreaktion kommt es zur Bildung von knotenartigen Bindegewebsneubildungen, die zu Vernarbung der Lunge, Luftnot, Husten und Verschleimung, chronischer Bronchitis und später zum Tod durch Erstickung führen können.
    Schöne Aussichten!
    Tod durch Erstickung!
    So ist es immer.
    Zuerst hustet man, quält sich den Dreck aus der Lunge, dann folgt die Bronchitis und die langen Nächte, in denen man nicht mehr liegend schlafen kann, weil dafür die Luft fehlt und nicht wenige Bergmänner von ihren Frauen ins Wohnzimmer verfrachtet werden, wo sie mit aufgerichtetem Oberkörper die Nächte durchleiden. Danach kommen die Lungenaussetzer, manchmal ein schnelles Ersticken, das sich oftmals selbst reguliert, meistens auf der Intensivstation und am Sauerstoffgerät. Dann hat man den Tod gesehen, auch wenn er nur fragmentarisch ist, und hat erlebt, dass es kein weißes Licht am Ende des Tunnels gibt. Man kehrt nachhause zurück, fühlt sich wieder gut, vielleicht nochmals auf die Intensive und irgendwann ist es zu spät und die letzten Tage, oftmals Monate, verbringt man im Krankenbett, während der zitternde Finger stets über dem roten Notknopf schwebt, falls man erneut erstickt, was einem eine Schweineangst macht, reanimiert wird, und wieder erstickt, sodass man sich fast schon dran gewöhnt, bis nichts mehr geht und man röchelnd krepiert oder ins Koma fällt.
    Diese Männer wissen, dass man nicht nur einmal stirbt, sondern der letzte Schritt fast schon etwas Gewöhnliches an sich hat.
    Frank Wille verdrängt diese Gedanken, wann immer er kann, aber der schlimmer werdende Husten lässt sich nicht wegreden, da hat Oskar recht, hat Lottchen recht, haben alle recht, die ihm sagen, er soll zusehen, dass er in Frührente geht, denn schließlich will er noch was haben vom Leben, oder etwa nicht?
    Heute Morgen, es ist Samstag, hat er seine Portion Dreck ins Waschbecken gespuckt und atmet einigermaßen frei, was ihn auch seelisch erleichtert. So kann er sich auf den Nachmittag freuen und auf die freie Zeit.
    Der Herbst meint es gut mit ihnen. Er es ist mild genug, um im Garten zu grillen, ein paar Bierchen zu trinken und Sätze hin- und herfliegen zu lassen.
    Ottilie wird vielleicht vorbei kommen, gemeinsam mit ihrer Tochter Jasmina. Mit der armen kleinen Jasmina, die sie alle so sehr lieben, wenn sie das Gesicht verzerrt, mit den Armen spastisch wackelt, kichert und sabbert und allen mit fröhlich blitzenden Augen zuschaut, ohne wirklich zu begreifen, was geschieht. Ein bildhübsches Kind mit einem Herzen aus Gold und einer Lebenslust, die man vermutlich nur haben kann, wenn man losgelöst von der Realität in einer eigenen Wundertraumwelt existiert, ohne Sorgen und Kummer, eingepackt in wattige Liebe, ohne Zukunft, aber stets direkt in der Gegenwart.
    Lotte tritt ein, für Frank noch immer die schönste Frau der Welt. Ihr schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen ist im Laufe der letzten Jahre noch strenger geworden, die Lippen schmaler, die Augen dunkler, ihr Körper noch immer schlank, aber nicht mehr so biegsam, die Brüste noch erstaunlich fest, aber Beine und Rücken sind steif vom Ischiasschmerz. Sie hat ihren hausfraulichen Habitus abgelegt, seitdem die Kinder aus dem Haus sind, aus einem Haus, dass sie für die ganze Familie gekauft haben und in dem Tom noch ein Zimmer hat, das wohl auch bald frei wird. Dann ist das, wofür er, Frank, arbeitete, schon wieder vorbei, als sei es gar nicht geschehen. Zeit ist so relativ, deshalb versucht Frank, wo immer es geht, die Herrschaft über den Augenblick zu wahren, da er nur so die Herrschaft über das Leben haben kann. Er versucht, nicht traurig zu sein, obwohl eine weise Antwort ihm gut täte. Doch dafür hätte er zuerst eine vernünftige Frage stellen müssen, und die fällt ihm nicht.
    Nach wie vor liebt er Goethe und nach wie vor hält er es mit ihm, wenn es mal stockt und nicht so will. Der große Dichter hatte gesagt, es gäbe viele Menschen, die sich einbilden, was sie erfahren, verstünden sie auch. Doch dieser Einbildung verfällt Frank nicht.
    Warum ist die Zeit so
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