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Ambler-Warnung

Ambler-Warnung

Titel: Ambler-Warnung
Autoren: R Ludlum
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Kapitel eins
    Das Gebäude besaß die Unsichtbarkeit des Gewöhnlichen. Es hätte eine große Highschool oder ein regionales Rechenzentrum der Steuerbehörde sein können. Der quadratische, beige Klinkerbau – Erdgeschoss und drei Stockwerke, die einen Innenhof umgaben – war ein typisches Gebäude, wie sie in den fünfziger und sechziger Jahren errichtet worden waren. Kein zufälliger Passant hätte es eines zweiten Blickes gewürdigt.
    Nur gab es hier keine zufälligen Passanten. Nicht auf dieser vorgelagerten Insel sechs Meilen vor der Küste Virginias. Offiziell gehörte die Insel zum National Wildlife Refuge System, das Biotope für Wildtiere schuf, und wer sich für sie interessierte, erhielt die Auskunft, wegen des überaus empfindlichen Ökosystems sei die Insel für Besucher gesperrt. Teile der Leeküste der Insel waren tatsächlich von Fischadlern und Gänsesägern bewohnt: von Räubern und ihren Beutetieren, die beide von dem größten Raubtier überhaupt, dem Menschen, bedroht waren. Aber in der Inselmitte lag mit gepflegten Rasenflächen und gestalteten sanften Hügeln ein sechs Hektar großes Gelände, auf dem das gesichtslose Gebäude stand.
    Die Boote, die Parrish Island dreimal täglich anliefen, trugen NWRS-Markierungen, und aus der Ferne wäre nicht zu erkennen gewesen, dass die zur Insel transportierten Leute keineswegs wie Park Ranger aussahen. Hätte ein Fischerboot in Seenot versucht, die Insel anzulaufen, wäre es von Männern
in Kaki mit freundlichem Lächeln und hartem, kaltem Blick abgefangen worden. Niemand kam jemals nahe genug heran, um die vier Wachttürme oder den Elektrozaun um das Gelände zu sehen und sich über sie zu wundern.
    Obgleich die Psychiatrische Klinik Parrish Island äußerlich so unscheinbar war, enthielt sie eine größere Wildnis als diejenige, die sie umgab: die des menschlichen Geistes. Selbst in Regierungskreisen wussten nur wenige, dass diese Einrichtung existierte. Trotzdem erforderte simple Logik ihre Existenz: eine Psychiatrie für Patienten, die über streng geheime Informationen verfügten. Für die Behandlung von Geisteskranken war eine sichere Umgebung erforderlich, wenn das Gedächtnis dieser Patienten voller Staatsgeheimnisse war. Auf Parrish Island konnten Sicherheitsrisiken präzise unter Kontrolle gehalten werden. Das gesamte Klinikpersonal war gründlich überprüft und für den Umgang mit streng geheimen Informationen zugelassen worden. Audio-und Videoüberwachungssysteme, die Tag und Nacht in Betrieb waren, boten weiteren Schutz gegen eine Gefährdung der Sicherheit. Als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme wurde das Klinikpersonal alle drei Monate ausgewechselt, um die Wahrscheinlichkeit zu verringern, dass unerwünschte Bindungen entstehen konnten. Die Sicherheitsbestimmungen schrieben sogar vor, die Patienten seien mit Nummern, nie mit Namen zu identifizieren.
    Nur selten gab es einen Patienten, der als extrem gefährlich galt, was an der Art seiner psychischen Störung oder seinem besonders brisanten Wissen liegen konnte. Ein so eingestufter Patient wurde von den übrigen Patienten isoliert und in einer geschlossenen Abteilung untergebracht. Im dritten Stock des Westflügels gab es einen solchen Patienten: Nr. 5312.

    Jede Krankenschwester, die durch Rotation in die Abteilung 4W versetzt wurde und dem Patienten Nr. 5312 erstmals begegnete, wusste nur sicher, was sie mit eigenen Augen sah: dass er etwas über eins achtzig groß und schätzungsweise vierzig Jahre alt war; dass seine kurz geschnittenen Haare braun, seine Augen ungetrübt blau waren. Begegneten ihre Blicke sich, sah die Krankenschwester zuerst weg – die Intensität seines starren Blicks konnte entnervend, fast körperlich bedrängend sein. Den Rest seines Persönlichkeitsprofils enthielt seine Krankenakte. Über die Wildnis in seinem Geist konnte man nur spekulieren.
     
    Irgendwo in Abteilung 4W gab es Detonationen und ein Blutbad und Schreie, aber sie waren lautlos, auf die unruhigen Träume des Patienten beschränkt, die jetzt lebhafter wurden, obwohl sie allmählich erwachten. Diese Augenblicke des Halbschlafs – wenn der Sehende nur registriert, was er sieht; Augen ohne ein bewusstes Ego – waren mit einer Serie von Bildern angefüllt, von denen jedes sich aufwölbte wie ein Stück Film, der vor einer überhitzten Projektionslampe zum Stehen gekommen ist. Eine Wahlversammlung an einem schwülheißen Tag in Taiwan: Tausende sind auf einem riesigen Platz versammelt, über
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