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Nach Santiago - wohin sonst

Nach Santiago - wohin sonst

Titel: Nach Santiago - wohin sonst
Autoren: Peter Lindenthal
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El Camino
Den Pilger in uns entdecken

    Es gibt kaum einen Weg, der so mit Büchern, Führern, Bildbänden, historischen und kunsthistorischen Studien gepflastert ist wie der „Camino de Santiago“. Seine religiöse, spirituelle, geschichtliche Bedeutung für die Entwicklung Europas ist schon in vielen Werken untersucht und gewürdigt worden. Was kann ich also Neues zum bisher Geschriebenen und Gesagten hinzufügen, das es rechtfertigt, ein weiteres Buch auf den schon so hohen Stapel zu legen? Neue Erkenntnisse auf dem Gebiet der Jakobswegforschung habe ich keine zu bieten, dazu gibt es andere, Berufenere, Kompetentere. Was ich in den zwei Monaten meiner Pilgerreise gesehen und erlebt habe, widerfuhr und widerfährt in ähnlicher Weise vielen anderen Pilgern auch, besonders denjenigen, die alleine unterwegs sind und mindestens von den Pyrenäen nach Santiago aufbrechen — zu Fuß.
    Einzigartig ist nur die Erfahrung der Pilgerreise selbst, sie ist nicht wiederholbar, nicht einmal durch mich selbst. Genauso wie das Leben jedes Menschen einzigartig und unwiederholbar ist. An dieser Einzigartigkeit möchte ich andere teilhaben lassen und sie ermutigen und motivieren, sich ebenfalls auf den Weg zu machen, auch im übertragenen Sinn. Und ihre einzigartigen Erfahrungen auf diesem europäischen Weg zu machen, der uns auf uns selbst zurückwirft und — soviel mir bekannt ist — keinen unverändert nach Hause kommen läßt.
    Ich möchte, weil ich es selbst erlebt habe, anderen mitteilen, daß man auch in unserer Zeit in seinem eigenen Kulturkreis tiefe und prägende Erfahrungen machen kann, ohne Drogen zu nehmen, ohne sich einem Guru auszuliefern, ohne Weltumsegler oder Extremsportler zu sein. Manche finden Gott, andere sich selbst oder eine neue Orientierung in ihrem Leben oder Antworten auf wichtige Fragen. Ohne tibetanische, aztekische, indische, afrikanische oder sonstige Gurus, ohne den Ozean zu durchschwimmen, ohne zu Fuß die Antarktis zu durchqueren, ohne mit dem Mountainbike durch die Sahara zu fahren, ohne Reinhold Messner zu sein. Daß auch ganz „normale“ Menschen — denn für einen solchen halte ich mich — tolle Abenteuer erleben und Grenzerfahrungen machen können, ohne gleich Bungee Jumping, Canyoning oder Sky Surfing zu betreiben, ohne sich in immer kürzeren Abständen immer größere (und teurere) Adrenalinstöße zu versetzen, um das so langweilige Leben „spannender“ zu machen.
    Gerade heute, in einer Zeit zunehmender materieller Übersättigung (in den Industrieländern, wohlgemerkt), zugleich zunehmender Ratlosigkeit in bezug auf immer brennendere soziale Fragen, zunehmender spiritueller und emotionaler Verarmung und Vereinsamung — worauf die einen mit noch mehr Lärm und „Action“, die anderen mit noch mehr innerem Rückzug oder Flucht in Sekten und dubiose politische Bewegungen reagieren — , ist für mich das Gehen auf diesem uralten Pilgerweg — viele bezeichnen ihn auch als „Weg der Kraft“ — nicht nur eine Konfrontation mit mir selbst und eine Möglichkeit, mich zu besinnen und Kraft zu schöpfen. Das schaffe ich auch in einem guten Urlaub. Der Weg lehrt uns aber auch wichtige Dinge für die Zukunft, welche wir neu entdecken und wiederbeleben sollten, falls wir eine Zukunft haben wollen:
    Neu zu definieren, was für uns wesentlich und was unwesentlich ist; die Langsamkeit und die Intensität wiederzuentdecken; die Füße auf dem Boden zu behalten und ein Ziel zu haben, im Gegensatz zum weitverbreiteten Motto: „Ich weiß zwar nicht, wo ich hinfahr’, aber dafür bin ich umso schneller dort...“; Begegnung statt Eroberung, Austausch statt Konsum und Solidarität statt Konkurrenz zu leben.
    Alles Dinge, die man auch in anderen Zusammenhängen lernen und erproben kann, das stimmt. Im Verlauf meiner zweimonatigen Pilgerreise war ich mit ihnen aber in einer Intensität konfrontiert, wie ich sie im Alltag kaum hätte finden können. Der Pilgerweg sozusagen als „Zukunftswerkstatt“.
    Ich wünsche mir, daß möglichst viele nach der Lektüre dieses Buches Lust bekommen, sich selbst auf den „Camino“ zu machen. Den Rest besorgt der Weg selbst...
    Lassen Sie mich zum Schluß noch einen für mich sehr wichtigen Grund anführen, warum ich dieses Buch schreibe: Angesichts des rapide steigenden Interesses am Jakobsweg möchte ich versuchen, ein kleines Gegengewicht zu anderen Publikationen über den Jakobsweg zu schaffen, die die Pilgerreise als mystischen Weg der privaten,
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