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Nach Santiago - wohin sonst

Nach Santiago - wohin sonst

Titel: Nach Santiago - wohin sonst
Autoren: Peter Lindenthal
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mir machen dürfe. Ich lasse sie gewähren und weiß jetzt, daß ich wirklich angekommen bin, daß die Zeit des Pilgerns vorüber ist. Ich werde zum Photoobjekt!

    Nach dem Besuch des Jakobsgrabmals in der Krypta und nachdem ich noch die Statue des Apostels über dem Hochaltar umarmt habe — das letzte der jahrhundertealten Pilgerrituale trete ich aus der Kathedrale wieder auf die riesige Plaza del Obradoiro hinaus, auf der es mittlerweile von Menschen wimmelt. Wie gut, daß ich so früh heruntergekommen bin! Nun folgt der obligate Besuch im Pilgersekretariat, wo die Pilger — nach Verifizierung der zurückgelegten Distanz mittels der Stempel im Pilgerpaß — ihre „Compostela“ ausgehändigt bekommen. Wieder spüre ich, wie ein Teil meiner Pilgeridentität von mir abbröckelt: Der Empfang im Büro ist kühl, distanziert, bürokratisch und geschäftsmäßig. Kein Lächeln, kein Wort des Willkommens oder der Anerkennung. Ich sag’s dem Typen auch, daß ich von dem Empfang maßlos enttäuscht bin. Er scheint es sich zu Herzen zu nehmen, denn die nächsten Pilger erzählen mir, daß er bemüht freundlich zu ihnen war.
    Später treffe ich Yves, der inzwischen mit seiner Klasse eingetroffen ist. Und was er mir erzählt, läßt mich schwer am Geist der Toleranz und Offenheit zweifeln, mit dem ich den Jakobsweg in den letzten beiden Monaten in Verbindung gebracht hatte: Seinem Begleiter Eric und den vier Moslems aus seiner Klasse wurde die Verleihung der „Compostela“ verwehrt, weil sie nicht katholisch sind!
    Von der „Compostela“ mache ich eine Photokopie für das „Hostal de los Reyes Catolicos“, früher Hospiz, heute Vier-Sterne-Hotel, auf der Plaza del Obradoiro vor der Kathedrale. Ein altes Privileg gewährt heute noch „echten“ (also doch!) Pilgern, also jenen, die eine „Compostela“ vorweisen können, drei Tage lang Gratisverpflegung — früh, mittags und abends — soferne sie sich unter den ersten zehn Pilgern befinden, die sich jeweils um 9, 12 und 19 Uhr vor dem Hotel einfinden. Ich kann mir das Gerangel um die „Startplätze“ gut vorstellen, wenn Hunderte von Pilgern in die Stadt strömen, was in der Hochsaison sicher oft der Fall ist. In den zwei Tagen, in denen ich dieses Privileg genieße, sind wir jedoch höchstens zu acht. Man ißt auch nicht à la carte, sondern kriegt das Pilger- und kein Haubenmenü in einem weißgekachelten Raum in der Nähe der Küche serviert. Der Rahmen ist alles andere als schön und erhebend, aber alleine die Tatsache, gemeinsam mit Menschen, die das gleiche Ziel hatten und auch erreichten, die wichtige Tätigkeit des Essens zu zelebrieren, verleiht dem Ganzen doch etwas Besonderes. Wir, das sind die drei Brasilianer, die sich voller Freude wiedergefunden haben, die drei Baskinnen, eine österreichische (die erste und einzige!) Pilgerin und ich, haben jedenfalls viel Spaß miteinander und genießen die gemeinsamen Mahlzeiten sehr.
    Jeden Tag um 12 Uhr ist es Zeit für die Pilgermesse, zu deren Ende immer die Pilger begrüßt werden, die an dem Tag angekommen sind. Nach der Messe kommen freudestrahlend die — meine! — drei Mountainbiker auf mich zu und umarmen mich — Hase und Igel sind wieder vereint! Sie sind seit gestern abend da und haben über die Pilgerbegrüßung mitbekommen, daß auch „el peregrino de Austria“ es geschafft hat.
    Draußen vor der Kathedrale herrscht der klassische Touristenrummel, langsam schleicht Traurigkeit in mich. Ich spüre, wie ohne mein Wollen oder gar Zutun der Pilger in mir immer blasser wird und dem Touristen Platz macht. Um mich zumindest noch äußerlich von den „anderen“ zu unterscheiden, lege ich Hut, Stock und Rucksack nicht ab. An den Blicken, die mir die Menschen zuwerfen, bemerke ich auch, daß sie mich sehr wohl als Pilger identifizieren.
    Jetzt, wo alle Rituale zelebriert sind, widme ich mich der Besichtigung der wunderschönen Stadt — als Pilger oder schon als Tourist? — , verschicke Ansichtskarten an alle, die mir in den letzten zwei Monaten ihre Gastfreundschaft gewährt haben, und erkundige mich schon nach den Zugfahrplänen für die Rückreise. Ich werde, das ist jetzt schon klar, die drei Tage Gratisessen nicht in Anspruch nehmen, sondern die Stadt vorher verlassen — noch ehe der Pilger in mir gänzlich verschwindet. Ich möchte ein Stück dieser Identität mitnehmen und sehen, was ich daraus machen kann. Was ich auf dem Weg erlebt und gelernt habe, soll auf keinen Fall zur Erinnerung
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