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Nach Santiago - wohin sonst

Nach Santiago - wohin sonst

Titel: Nach Santiago - wohin sonst
Autoren: Peter Lindenthal
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Montpellier kenne. Sie wohnen in St. Brès, einem kleinen Dorf, 18 Kilometer vor Montpellier. Wieder werde ich herzlich aufgenommen, köstlich bewirtet, und ein frischüberzogenes Bett wartet auf mich. Ich bin praktisch immer noch bei mir „zuhause“.
    Die Füße sind zwar müde, aber es geht mir ausgezeichnet. Ganz besonders freut mich, daß mir der Rücken überhaupt keine Probleme bereitet. Vor fünf Jahren hatte ich einen Bandscheibenvorfall, bis heute habe ich eine Operation vermeiden können. Vor dem Start habe ich mir schon ein bißchen Sorgen gemacht, der Rucksack wiegt immerhin — noch — 17 Kilogramm. Wie ich aber später erfahre, gehört das Gehen zu den besten Therapien für Bandscheibengeschädigte überhaupt! Als hätte ich es geahnt...
    Ajiz ist ein braver, tapferer Hund, ein toller Kamerad.

    Samstag, 25. Feber St. Brès — Montpellier

Montpellier, la Surdouee

    Von St. Brès nach Montpellier sind es vier Stunden Marsch, teils noch auf der alten Römerstraße, vor allem aber durch einige in den letzten Jahren rasch gewachsene Vororte — „villages dortoires“ (Schlafdörfer) — von Montpellier. Für uns bedeutet das viel Asphalt und wenig Landschaft, also trotz der Kürze eine eher ermüdende Etappe. Aber auch das gehört in die Pilgersuppe. Eigentlich fällt es mir nicht besonders schwer, dies zu akzeptieren.
    Zu Mittag bin ich schon in der Stadt mit einer der ältesten medizinischen Fakultäten Europas (Rabelais!), gegründet im 13. Jahrhundert am alten „Cami Romieu“, dem Pilgerweg nach Santiago. Auch ich habe hier studiert, ein Jahr lang, meine Wurzeln sind lebendig und kräftig.
    Jean und Francine empfangen mich mit offenen Armen und verwöhnen mich nach Strich und Faden. Dies ist schon meine dritte ganz private Pilgerherberge auf der Reise! Die Blasen an Jeans Füßen sind natürlich noch nicht verheilt, wahrscheinlich geht er am Montag sogar in den Krankenstand, aber er spricht immer noch voller Begeisterung vom ersten Tag, seinem Pilgertag. Er und seine Frau Francine sind „meine Familie“ in Montpellier. Wann immer ich kann, besuche ich sie und teile ein Stück ihres Lebens mit ihnen.
    In Montpellier setze ich die ersten Erfahrungen aus drei Tagen Pilgerdasein um: Die dicke Schwarte von Drewermann (1 kg) bleibt da, ich werde ohne sie auskommen müssen, sie ist zu schwer und nimmt zuviel Platz weg. Gelesen habe ich bisher keine Zeile. Wahrscheinlich werde ich auch in Hinkunft, nach einem langen und anstrengenden Tag, kaum Zeit oder Lust zum Schmökern haben. Das Führen meines Tagebuches wird mir als intellektuelle Anstrengung genügen müssen.

    Sonntag, 26. Feber Montpellier — St. Guilhem

Die Magie eines Ortes

    Jean und Francine bringen mich mit einer Stunde Verspätung — aber was ist das schon, gemessen an den zwei Monaten, die vor mir liegen? — nach Grabels, einem „Schlafdorf“ westlich von Montpellier. Das erspart mir zwei Stunden mühevollen Gehens auf einer der großen Ausfallstraßen der Stadt — auch meine Pilgerauthentizität hat Grenzen! Und mit der Tatsache, daß ich ab nun nicht mehr beanspruchen kann, den gesamten Pilgerweg zu Fuß zurückgelegt zu haben, werde ich leben können.
    Schon am späten Nachmittag komme ich in St. Guilhem, meinem Tagesziel, an. Es ist der erste „magische“ Ort auf dem Jakobsweg. Guilhem, Herzog von Aquitanien, Graf von Toulouse und Cousin von Karl dem Großen, der sich als Feldherr im Kampf gegen die Sarazenen und Befreier von Barcelona einen glänzenden Namen erworben hatte, entsagte allem weltlichen Ruhm, wurde Benediktinermönch und gründete im Jahre 806 in diesem abgelegenen, wüstenartigen Tal ein Kloster. Dabei wurde er vom ersten großen Reformator der Ordensregel der Benediktiner, dem Abt Benedikt von Aniane, der als Westgotenprinz Witiza geheißen hatte, tatkräftig unterstützt. Aniane befindet sich nur wenige Kilometer von St. Guilhem entfernt an der Stelle, wo der Herault-Fluß aus den Cevennen in die fruchtbare Küstenebene eintritt. Rund um die romanische Abtei von St. Guilhem, die mich ob ihrer kargen und schlichten Schönheit seit über 20 Jahren immer wieder wie ein Magnet anzieht, gruppieren sich in engen und steilen gepflasterten Gäßchen die für diese Gegend so typischen Steinhäuser. Jetzt, als Pilger, fällt mir zum ersten Mal auf, daß einige Häuser und Brunnen mit dem Symbol der Jakobspilger, der Jakobsmuschel, verziert sind. Kein Wunder, ist doch St. Guilhem seit einem Jahrtausend eine wichtige
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