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Die Masken der Wahrheit

Die Masken der Wahrheit

Titel: Die Masken der Wahrheit
Autoren: Barry Unsworth
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Kapitel eins 
    s war ein Tod, mit dem alles begann, und noch ein Tod, aus dem das Weitere folgte. Der erste war der eines Mannes namens Brendan, und ich war dabei, als es geschah. Ich sah, wie sie ihn umringten und sich in der bitteren Kälte kauernd über ihn beugten und dann zurückwichen, um seiner Seele den Weg freizugeben. Es war, als ob sie seinen Tod wie ein Schauspiel für mich aufführten; und das war seltsam, denn sie wußten ja nicht, daß ich sie beobachtete, und mir war an diesem Punkt noch gar nicht bewußt, was sie waren. 
       Seltsam war auch, daß ich, ob von Engeln oder Dämonen, zu einem Zeitpunkt zu ihnen geführt wurde, da meine Torheit mich in große Bedrängnis gebracht hatte. Ich will meine Sünden gar nicht verheimlichen; welchen Sinn hätte dann die Vergebung derselben? Just an diesem Tag hatte der Hunger mich zur Unzucht verführt, und dieser Unzucht wegen hatte ich meinen Umhang verloren. 
       Ich bin nur ein armer Scholar, mit blankem Hintern den Stürmen des Lebens ausgesetzt, wie man so sagt, und daß ich der lateinischen Sprache mächtig bin, ist meine einzige Empfehlung. Doch bin ich, obwohl ein wenig kleinwüchsig, jung und Wohlgestalt, und schon so manche Frau hat mir Blicke zugeworfen. Derlei war mir auch widerfahren, kurz bevor ich Brendan sterben sah, wenngleich mich in diesem Fall, wie bereits gesagt, nicht die Wollust getrieben hatte, sondern der Hunger, eine mindere Sünde; ich hatte gehofft, die Frau würde mir zu essen geben, doch sie war zu hastig und zu heiß. Dann wollte es das Pech, daß der Ehemann vorzeitig heimkehrte und ich durch den Kuhstall flüchten mußte und meinen guten Umhang zurückließ, und das in diesem bitterkalten Dezemberwetter. Ich hatte Angst vor Verfolgung und gebrochenen Knochen, auch wenn es verboten ist, einen Mann im Priesterstand zu schlagen, und so ging ich am Waldrand entlang und nicht auf offener Straße. Hätte ich mich an die Straße gehalten, wäre ich gewiß an den Leuten vorbeigegangen, ohne sie überhaupt zu bemerken.
       Es gab eine Lichtung, an der ein Weg von der Straße in den Wald hineinführte. Die Leute hatten ihren Karren dorthin gefahren, und ich stieß auf sie, gerade als sie den Mann herunterhoben. Von den Bäumen verborgen, beobachtete ich alles, ohne mich bemerkbar zu machen. Ich hatte Angst, ins Freie zu treten; denn ich hielt die Leute für Räuber. Sie trugen sonderbare, bunt zusammengewürfelte Kleidungsstücke, welche ihnen nicht zu gehören schienen. Die Zeiten sind gefährlich, und einem Geistlichen ist es untersagt, Waffen zu tragen; alles, was ich hatte, war ein kurzer Stock – Stöcke, Knüttel und Keulen ohne Spitzen oder schnittscharfe Kanten fallen natürlich nicht unter dieses Verbot. Aus meinem Versteck heraus beobachtete ich, wie die anderen den Mann vom Karren hoben, während der magere, junge Hund, den sie bei sich hatten, ausgelassen in die Höhe sprang, wie im Spiel, wobei ihm die blasse Zunge aus dem Maul hing. Ich blickte in das Gesicht des Mannes, auf dem der Glanz des Todes lag. Die anderen legten ihn auf den Erdboden. Sie hatten ihn hierher gebracht, um in seiner Todesstunde um ihn zu sein; auch dies wurde mir im selben Augenblick klar. Denn wer will schon, daß ein Gefährte auf einem rumpelnden Karren seinen letzten Atemzug tut? Wir möchten die Sterbenden und gerade erst Dahingeschiedenen dicht vor Augen haben, um ihnen das volle Maß unserer Anteilnahme gewähren zu können. Unser Herr Jesus wurde ja auch vom Kreuz abgenommen, um betrauert zu werden; droben war er zu weit weg.
       Die Leute kauerten sich im Kreis um den Mann herum, dicht aneinandergedrängt, als wäre er ein Feuer, das ihnen an diesem Wintertag Wärme spenden könnte. Es waren sechs Personen: vier Männer, ein Knabe und eine Frau. Sie waren mit allem möglichen Zeug bekleidet, mit Fetzen und Lumpen, die jeder Kleiderordnung Hohn sprachen. Einer hatte einen grünen Hut mit Federbusch auf, wie die Reichen ihn tragen, wenngleich er ansonsten ärmlich gewandet war. Ein anderer war mit einem weißen Mantel oder Kittel bekleidet, der ihm bis zu den Knien reichte; darunter sah man seine durchgewetzten Hosenbeine. Und wieder ein anderer – der Knabe – trug eine Art wulstigen Schal aus Pferdehaar, wie es schien. Die Eichen, die sich hinter der Gruppe erhoben, waren noch gelbbraun vom Laub des vergangenen Herbstes, das verdorrt an den Stengeln hing; ein Lichtschimmer fiel auf die Blätter und den derben Stoff, aus dem der
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