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Ein perfekter Freund

Ein perfekter Freund

Titel: Ein perfekter Freund
Autoren: Martin Suter
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Rossi (sechs Tore).
    Die Schwierigkeiten eines Lebens als Italiener im Ausland lernte er nur durch die Erzählungen seines Vaters kennen. Er selbst fühlte sich in dieser Rolle so wohl, daß er bis heute seinen italienischen Paß behalten hatte.
    Die Steinhofstraße lag nahe beim Zentrum in einem Wohnviertel, dessen Wohnungen zum größten Teil als Büros, Kanzleien und Arztpraxen zweckentfremdet wurden. Vor der Nummer 23 stieg Fabio aus dem Taxi und ging durch den schmalen Vorgarten zur Eingangstür. Er klingelte bei »Praxis für Psychotherapie und Neuropsychologie Dr. phil. Paul Vogel«. Im selben Moment surrte der Türöffner. Auf einer ausgetretenen, gebohnerten Holztreppe stieg er in den ersten Stock und trat ein. »Ohne zu klingeln«, wie es das Schild an der Tür befahl.
    Eine apathische Praxishilfe nahm seine Daten auf und führte ihn in ein Wartezimmer.
    Der Raum sah aus, als wäre er aus Beständen der Brockenstube möbliert. Ein Potpourri aus Sitzgelegenheiten jeder Stilrichtung, eine Spielecke voller abgewetzter Spielsachen und zerkritzelter Malbücher, zwei Clubtische von unterschiedlicher Höhe, beide übersät mit Zeitschriften, die aussahen, als stammten sie aus der gleichen Quelle wie das Mobiliar. An den Wänden hingen, gerahmt und ungerahmt, die Prunkstücke aus Maltherapien der letzten zwanzig Jahre.
    Die Luft war abgestanden. Fabio öffnete das Fenster und setzte sich. Zwischen Illustrierten, Tiermagazinen, Fotobüchern und Fachzeitschriften hatte jemand einen SONNTAG- MORGEN vergessen. Die Zeitung war drei Wochen alt, Fabio kannte sie nicht. Er blätterte darin und stieß auf einen Bericht mit dem Titel: »Die Wut des Lokführers auf den Selbstmörder«. Von Fabio Rossi.
    Das Hauptbild zeigte einen grimmigen Erwin Stoll und die Bildunterschrift: Lokführer Stoll: »Soll er sich doch aufhängen!«
    Fabio überflog den Bericht. An das Gespräch mit Stoll erinnerte er sich genau. Auch die Gesichter der anderen abgebildeten Lokführer kamen ihm bekannt vor. Aber einige Äußerungen waren neu. Offenbar hatte er sie noch einmal befragt. Vor allem danach, ob sie sich denn nicht mißbraucht fühlten von den Selbstmördern. Er war sogar so weit gegangen, die Witwe eines Selbstmörders mit der Wut des Lokführers zu konfrontieren, wie ein kurzes Interview mit einer Jacqueline Barth bewies, einer blassen, ungeschminkten Frau Mitte Vierzig. Es gipfelte in dem bemerkenswerten Satz: »Sagen Sie ihm, es wäre mir auch lieber, er hätte es nicht getan.«
    Die Praxishilfe kam herein. »Herr Rossi.« Fabio legte den SONNTAG-MORGEN beiseite und folgte ihr ms Sprechzimmer.
    Dr. Vogel war einer der dicksten Männer, denen Fabio je begegnet war. Er stemmte sich aus einem extrabreiten Sessel hinter dem Schreibtisch und kam auf ihn zu. Bei jedem Schritt mußte er mit dem einen Bein ausholen, damit er es am anderen vorbeibrachte, so feist waren seine Oberschenkel. Dazu schwang er die kurzen Arme, die von seinem runden Körper abstanden. Er reichte Fabio eine weich gefütterte Hand und mußte sich dabei etwas abwenden, damit ihm sein Leib nicht in den Weg kam.
    Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, und sein Hemd klebte, obwohl eine Klimaanlage den Raum auf winterliche Temperaturen herunterkühlte. Es roch nach dem Kölnisch Wasser, mit dem Dr. Vogel seine Ausdünstung übertünchte.
    »Das ist mein Problem, und welches ist Ihres?« waren seine ersten Worte. Wahrscheinlich seine Standardbegrüßung für neue Patienten, dachte Fabio.
    Er bot ihm einen Stuhl an, zwängte sich hinter seinen Schreibtisch und blätterte schwer atmend in Fabios Unterlagen.
    »Wir haben drei Probleme«, begann er, »die Amnesie davor, die Amnesie danach und das schlechte Arbeitsgedächtnis jetzt.«
    »Was meinen Sie mit schlechtem Arbeitsgedächtnis?«
    »Es fällt Ihnen schwer, sich Namen, Termine und Ereignisse zu merken. Sie sind vergeßlich.«
    »Nicht, was die Gegenwart betrifft.«
    »Schade, dagegen hätten wir etwas tun können. Kommen wir zum zweiten Problem: die Amnesie danach. Sie haben keine Erinnerung an den Unfall selbst und die erste Zeit danach. Dazu eine gute Nachricht: Das wird so bleiben.«
    Daß Dicke immer lustig sein müssen, dachte Fabio.
    »Und nun zu dem, was Sie als Ihr Hauptproblem empfinden: die retrograde Amnesie.« Dr. Vogel hob den linken Arm vors Gesicht, griff mit der rechten Hand einen Zipfel des kurzen Ärmels seines Polohemdes und wischte sich damit die Stirn ab.
    »Es kann sein, daß der Zeitraum, an den
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