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Ein perfekter Freund

Ein perfekter Freund

Titel: Ein perfekter Freund
Autoren: Martin Suter
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Sie sich nicht erinnern , im Lauf der Zeit schrumpft. Es kann sein, daß in Ihrem Meer des Vergessens plötzlich kleine Inseln der Erinnerung auftauchen. Es ist auch möglich, daß Ihnen plötzlich alles wieder einfällt. Und es ist auch denkbar, daß die Erinnerung überhaupt nie mehr zurückkommt. Das Problem ist: Ich kann es nicht beeinflussen.«
    »Ich dachte, es gibt Methoden, verlorene Erinnerungen wiederzuerwecken?«
    »Nur, wenn sie durch ein psychisch traumatisierendes Erlebnis abhanden gekommen sind. Nicht durch ein Schädel-Hirn-Trauma. Erinnern Sie sich an die Adresse?«
    »Welche Adresse?«
    »Die von hier.«
    Fabio überlegte. Sie fiel ihm nicht ein. »Ich habe sie mir nicht gemerkt. Sie stand auf einem Zettel.«
    »Gedächtnistraining. Gebrauchen Sie Ihr Hirn. Lernen Sie Gedichte. Merken Sie sich überflüssige Dinge. Lesen Sie, lösen Sie Kreuzworträtsel, spielen Sie Computerspiele, arbeiten Sie so bald wie möglich wieder. Je besser Sie Ihre grauen Zellen in Form bringen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß die Erinnerung zurückkommt. Rauchen Sie?«
    Fabio schüttelte den Kopf.
    »Gut. Alkohol?«
    »Kaum.«
    »Lassen Sie ihn ganz weg. Schon wegen des Antiepileptikums. Schlafen Sie viel. Treiben Sie Sport. Alles gut fürs Gedächtnis.«
    Den Rest der Stunde mußte sich Fabio Dinge merken, indem er sie in mentale Bilder verwandelte.
    »Bilder«, schnaufte Vogel, »der visuelle Input ist mit Abstand das beste Stimulans für das Hirn. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, das wissen Sie als Journalist.«
    »Das sagen unsere Fotografen immer.«
    »Und was antworten Sie denen?«
    »Fotografier das mal.«
    Vogel lachte im höchsten Falsett. Fabio erschrak. Daß dieser Fleischberg etwas so Spitzes, Dünnes wie diese Stimme hervorbringen konnte, darauf war er nicht gefaßt gewesen. »Den muß ich mir merken«, stieß er hervor, als er wieder sprechen konnte - und machte sich eine Notiz.
    Nach exakt vierzig Minuten wuchtete sich Vogel aus dem Stuhl und komplimentierte Fabio hinaus.
    »Auf Wiedersehen, Herr Doktor«, sagte er an der Tür.
    »Vogel«, ergänzte dieser. »Machen Sie sich das mentale Bild eines Nilpferdes.«
    »Und der Vogel?«
    »Sitzt auf dem Kopf des Nilpferdes.«

4
    Das Biotop war eines von Fabios Lokalen, vor allem im Sommer. Sein Vorplatz mit zwanzig Tischen lag im Schatten zweier städtischer Platanen, die Gäste waren über zwanzig und unter vierzig, und der Koch stammte aus Brescia.
    Es lag keine zehn Gehminuten von Dr. Vogels Praxis entfernt. Fabio war früh dran. Er machte fünfzehn daraus.
    Er war der erste Gast. Die meisten Tische auf dem Vorplatz waren reserviert. Aber die junge Kellnerin mit der langen schwarzen Schürze gab ihm ein kleines Tischchen beim Eingang. Sie schien ihn zu kennen, trotz Mütze und Sonnenbrille. Fabio tat, als kenne er sie auch.
    »Bist du allein, Fabio?« fragte sie. Als er nickte, räumte sie das zweite Gedeck weg.
    »Entschuldige, ich hab deinen Namen vergessen«, sagte er, als sie die Karte brachte.
    »Yvonne, macht nichts.«
    Fabio tat, wie ihm Dr. Vogel geraten hatte. Er sagte sich erstens den Namen in seinen eigenen Worten vor: Yvonne Machtnichts. Yvonne Machtnix. Yvonne Faniente.
    Er wiederholte ihn zweitens fünfmal: Yvonne Faniente, Yvonne Faniente, Yvonne Faniente, Yvonne Faniente, Yvonne Faniente.
    Er brachte ihn drittens mit etwas in Verbindung, das ihm vertraut war: Dolcefarniente.
    Er machte sich viertens ein mentales Bild: Yvonne hegt an einem Pool und ißt etwas Süßes. Vielleicht ein Eis. Yvonne liegt am Pool und leckt an einem Himbeereis. Vielleicht im Bikini. Oder nackt, zur besseren Memorierbarkeit. Yvonne räkelt sich nackt am Pool und leckt an einem Himbeereis. Yvonne Dolcefarniente.
    Und er übte fünftens im Geiste, wie er jemandem erklärt, wie er sich den Namen Yvonne merkt.
    »Hast du etwas gefunden?« fragte Yvonne Dolcefarniente. Jetzt erinnerte sich Fabio, daß er noch nicht bestellt hatte.
    Er hatte fertiggegessen und war dabei, sich zu überlegen, ob der Ristretto, den er bestellt hatte, zu den von Dr. Vogel verbotenen Stimulanzien gehörte, als eine Stimme sagte:
    »Warum sitzt du hier am Katzentischchen, ich hab den dort vorne reserviert.«
    Lucas stand vor ihm und zeigte auf einen für drei gedeckten Vierertisch.
    Fabio brauchte einen Moment, um die Situation zu erfassen. Er hatte sich mit Lucas hier verabredet und es vergessen. Er schaffte es, unter dem Vorwand, die Toilette aufsuchen zu müssen,
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