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Alle auf Anfang - Roman

Alle auf Anfang - Roman

Titel: Alle auf Anfang - Roman
Autoren: Sabine Zaplin
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1
DER UNFALL
Claudia
    Ein Stern aus Schlieren auf der Windschutzscheibe.
    Die Fliege war im Moment ihres Aufpralls zerplatzt, schon auf der Herfahrt. Trotzdem hält Claudia das Lenkrad jetzt fester in den Händen. Als ob das noch etwas nützen würde.
    Im Rückspiegel sieht sie die Kopfstütze des leeren Kindersitzes. Sie ist allein im Auto, allein mit dem Fahrgeräusch auf der nächtlichen Autobahn, mit der leise quietschenden Schaukel aus dem Theaterschnürboden. Sie fliegt.
    Eine Stunde zurück. Mit Anselm beim Wein nach der Vorstellung. Sie ist das nicht gewöhnt. »Ich trinke doch nichts, eigentlich«, hat sie gesagt und ist in sein Lachen eingefallen, und sie sind zwanzig Jahre jünger, eine Stunde zurück. Über den Gläsern ihre Augen in seinen wie damals, zwanzig Jahre zurück. Als ob nichts gewesen wäre.
    »Und dann hast du dieses alberne Gummimesser genommen, weißt du noch?«
    »Jedes Mal beim Zustechen hat es schon vorher gewackelt und … «
    »… und einmal hast du es falsch herum genommen und dir an die Schläfe gesetzt und … «
    »… und: Bumm!«
    Was haben sie gelacht. Wie konnten sie nur?
    Bis zum Auto hat er sie gebracht. »Sehe ich dich wieder?«
    Hinter der Heckscheibe die Kopfstütze vom Kindersitz. Nicht ja nicht nein hat sie gesagt, aus seinen Augen den letzten Blick wahrgenommen und ist dann eingestiegen. Aus dem Schnürboden hat sich die Schaukel tief in ihren Kopf hinabgesenkt. Seitdem fliegt sie.
    Und fliegt noch, als der Junge mit der Maske wieder in der Dunkelheit untergeht. Fliegt durch den Stern aus Schlieren hinaus ins All. Sie ist schwerelos. Ist das alles los. Von dort, wo ihre schweren Beine zurückgeblieben sind, weht ihr eine Stimme hinterher.
    »Hören Sie mich?«, schlägt ihr die Stimme gegen die Wangen.
    »Hallo! Hören Sie mich? Mein Name ist Alma Lund. Ich bin Ärztin. Der Rettungswagen wird gleich hier sein.«
    Als ob das noch etwas nützen würde.
Alma
    Sie kauert neben der Verletzten am Boden, hält ihre Hand, fühlt den Puls. Der ist ungleichmäßig, von Zeit zu Zeit setzt er aus, um dann stolpernd wieder spürbar zu werden. Die Frau hat Schnittverletzungen im Gesicht, aber die viel schlimmeren Verletzungen vermutet Alma im Bereich der unteren Wirbelsäule.
    Wo bleibt der Rettungswagen? Im Kopf entwirft Alma eine Schilderung des Unfallhergangs, so wie sie ihn beobachtet hat. Beobachten musste. Jasper kommt nicht vor in dieser Schilderung, er darf nicht vorkommen. Jasper hat sie verloren. Wann? In dem Moment, als er über die Leitplanke sprang und auf die Fahrbahn rannte, mit dieser lächerlichen Maske vor dem Gesicht, hatte sie ihn schon längst verloren. Hat sie ihn hierher getrieben, auf die Autobahn?
    Sie verbietet sich weitere Gedanken über ihren Sohn und konzentriert sich auf das, wofür sie ihren Eid abgelegt hat. Vorsichtig bettet sie den Kopf der Verletzten in ihren Schoß, schlägt ihr sanft gegen die Wangen und versucht, sie wieder zu Bewusstsein zu bringen.
    »Hallo! Hören Sie mich?«
    Dabei rattert der Unfallhergang durch ihren Kopf. Die Frau hat mit ihrem Wagen unvermittelt eine Vollbremsung gemacht, der Wagen ist ausgeschert, ins Schleudern geraten, mit dem Heck gegen den Brückenpfeiler geschlagen. Dabei wurde die Frau durch die Windschutzscheibe geschleudert, mit dem Rücken zuerst ist sie auf der Fahrbahn aufgeschlagen. Puls instabil, Verletzungen im Gesicht und vermutlich im Lendenwirbelbereich. Jasper würde sie weglassen.
    Aus der Ferne zuckt Blaulicht heran, ehe sie das Martinshorn hört.
Jasper
    Nie in seinem Leben ist er so gerannt. Er hasst es zu rennen. Das ist ihm alles zu nah hier, zu echt. Wie kriegt er das wieder weg? Herunterfahren und neu starten. Geht aber nicht. Seine Hände greifen ins Leere, und er rennt, rennt, rennt. »Früher starten, Jasper«, sagt sein Sportlehrer immer. Blanker Hohn, wenn er wieder mal gegen den Kasten geknallt ist. Wie er eben gegen die Leitplanke geknallt ist. Immer noch pocht es im Schienbein. Aber er ist drüber, dreimal, Seite, Mitte, Seite. Und weg.
    Er wollte das nicht. Wollte nur seine Mutter los sein. Wenn das Auto ihn erwischt hätte, wär’s auch egal gewesen. Hat ihn aber nicht erwischt. Hat er gewusst. Sieg! Sieg auf der ganzen Linie. Du bist draußen, Mama. Jetzt bin ich am Drücker. Jasper ist früher gestartet. Ist schon so weit weg. Rennt und rennt.
    Der Schweiß rinnt ihm über die Stirn, über die Wangen. Das Plastik der Maske klebt fest an der Haut. Er will sie abreißen.
    Ein Heulen
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