Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein perfekter Freund

Ein perfekter Freund

Titel: Ein perfekter Freund
Autoren: Martin Suter
Vom Netzwerk:
Intercity wiegt? Über sechshundertzwanzig Tonnen! Und ich fahre hundertfünfundzwanzig auf diesem Streckenabschnitt vor der Feidauerkurve. Keine dreihundert Meter Sichtweite und sechshundertfünfzig Meter Bremsweg! Und das Arschloch kommt zweihundert Meter vor mir aus den Büschen und stellt sich aufs Gleis. Da bin ich doch chancenlos! Arschloch! Kein Wunder, hat den seine Frau verlassen!«
    Dieser Ansatz hatte Rossi gefallen. Die Wut des Lokführers auf den Selbstmörder. Er wußte noch, daß er sich vorgenommen hatte, bei den bereits Interviewten unter diesem Aspekt nachzuhaken.
    Das nächste, woran er sich erinnerte, war der Wirrwarr aus Dämmern und Erwachen, aus dem er sich langsam zu befreien begann.
    Alles dazwischen war verschwunden in einem schwarzen Loch in seinem Kopf. Und wenn er in der Nacht vergeblich versuchte, es dort herauszuholen, war ihm, als steckte er mit angelegten Armen in einer engen Röhre und könnte weder vor noch zurück. Diesen Zustand der Klaustrophobie konnte er nur dadurch beenden, daß er der Nachtschwester klingelte. Sie gab ihm nach einigem Hin und Her eine Pille, die ihn in kurzer Zeit in einen tiefen, traumlosen Schlaf versetzte.
    »Hast du mit Norina gesprochen, Mamma?«
    Francesca Baldi griff mit der rechten Hand hinter ihren Nacken und zog die langen, geraden roten Haare, die ihr über die linke Schulter fielen, zurück an ihren Platz. Fabio kannte die Geste, seit er ein kleiner Junge gewesen war. Er wußte bis heute nicht, was sie ausdrückte: Verlegenheit, Langeweile, Abwesenheit oder einfach das Bedürfnis, berührt zu werden, und sei es durch sie selbst. »Norina will nicht mit mir sprechen.«
    »Hast du es versucht?«
    »Ja.«
    »Was sagt sie?«
    »Ich solle eine Nachricht hinterlassen, sie rufe mich zurück.«
    »Ihr Beantworter hat mit dir gesprochen?«
    »Mehrmals.«
    »Und sie ruft nicht zurück?«
    »Nein.«
    »Weil du keine Nachricht hinterläßt?«
    »Ich rede nicht mit Maschinen.«
    »Das ist ein Notfall, Mamma.«
    »Sie will nicht mit mir sprechen.«
    »Wie willst du das wissen, wenn du sie nicht fragst?«
    »Ich an ihrer Stelle würde auc h nicht mit mir sprechen wollen.«
    »Weil du meine Mutter bist?«
    »Weil sie mit dir Schluß gemacht hat.«
    Eine Schwester schaute herein, nickte Fabios Mutter zu und ging wieder hinaus.
    »Es wird Zeit. Sie schmeißen mich raus.«
    »Sie kann doch wenigstens mit mir reden. Ich muß doch wissen, wie es dazu gekommen ist.«
    »Du wirst es erfahren.« Sie gab ihm einen Kuß und stand auf.
    »Versprich mir, daß du es weiter versuchst.«
    »Versprochen«, sagte seine Mutter. Ihre Rechte verschwand wieder hinter dem Kopf, kam auf der linken Seite zum Vorschein und angelte sich ein paar rote Strähnen. Vielleicht, dachte Fabio, hat sie mit dieser Geste schon immer eine Lüge überspielt.
    Dr. Berthod war ein großer, schlaksiger Mann Anfang Vierzig mit einem Schädel, so kahl wie ein Präparat aus dem neurologischen Institut. Er blickte ironisch aus wimpernlosen Augen unter haarlosen Brauen, und wenn er lächelte, war man überrascht, eine Reihe einwandfreier Zähne zu erblicken.
    Er pikste Fabio mit einer stumpfen Nadel im Gesicht herum und machte sich eine Notiz, wenn dieser reagierte. Die rechte Gesichtshälfte vom Backenknochen bis zum Oberkiefer war noch immer taub.
    »Kommt das Gefühl wieder zurück?« fragte Fabio. Er fühlte jetzt Berthods trockene, eckige Hand auf seiner linken Gesichtshälfte und zog in Erwartung der Nadel eine Grimasse.
    »In den meisten Fällen. Aber es dauert.«
    »Und wenn es nicht zurückkommt?«
    »Gewöhnt man sich daran.«
    »Auch an die Gedächtnislücke? Mir ist nichts eingefallen seit dem Lokführer.«
    »Auch das braucht seine Zeit. Man muß den Zugang wieder finden.«
    »Und manchmal findet man ihn nie mehr«, ergänzte Fabio.
    »Wer sagt das?«
    »Sie. Gestern.«
    »Nicht vorgestern?«
    Fabio zuckte die Schultern. »Vielleicht auch vorgestern.«
    »Nein. Überlegen Sie. Gestern oder vorgestern?« Fabio dachte nach. »Gestern.«
    »Weshalb sind Sie so sicher?«
    »Vorgestern hatten Sie frei.«
    Berthod ließ seine Zahnreihe aufblitzen. »Ich glaube, ich kann Sie bald nach Hause schicken.« Er warf die Nadel in eine verchromte Schale.
    »Was mach ich bloß, wenn die letzten fü nfzig Tage meines Lebens verloren bleiben?«
    »Tun Sie sie zu den ersten vier Jahren Ihres Lebens. An die können Sie sich nämlich auch nicht erinnern.«
    »Aber die waren nicht so schicksalhaft.«
    »Darüber
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher