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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition)
Autoren: Hal Duncan
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PROLOG
Die Straße des Ewigen Staubes
    Die Tagebücher des Reynard Carter – Tag N ull
     
    »Eine brennende Landkarte. Jedes Epos«, sagte mein Freund Jack oft, »sollte mit einer brennenden Landkarte beginnen. Wie im Kino. Die verdammten Flammen verschlingen die ganze Welt; das Beste an diesen alten Filmen ist, wenn man sieht, wie die alte Landkarte aus Pergament in der Mitte allmählich ... schwärzer und schwärzer wird, knittert und knautscht, bis sie plötzlich einfach ... wuuusch!«
    Das war typisch Jack; wenn ihn jemand fragte, was er zum Geburtstag wollte, wünschte er sich eine Explosion. Jack war verrückt, doch während ich das ›Buch‹ weiter durchblätterte, immer schneller und schneller, mit jeder Seite mehr von einem wachsenden Gefühl des Grauens und der Ehrfurcht erfüllt, musste ich an das denken, was er gesagt hatte. Ich dachte an Götter und Tragödien, an Legenden und den Lauf der Geschichte oder an Filme, an deren Anfang Erzählungen aus grauer Vorzeit über die Leinwand flimmerten. Die Pergamentseiten in meiner Hand flackerten allerdings nicht im Schein eines Feuers, sondern im blassen Blau der Neonlampen in einem unterirdischen Kellergewölbe; und wenn etwas brannte, dann in meinem Kopf – ein Feuer der Erkenntnis, der Offenbarung. Trotzdem konnte ich das Gefühl nicht loswerden, dass die Welt um mich herum jeden Augenblick in Flammen und Asche verlodern würde, ihres Schleiers beraubt, und zum Vorschein käme ein blutiges Schauspiel, wie in einem reißerischen Hollywoodschinken choreographiert und von dröhnender, donnernder Musik begleitet, im Hintergrund Schreie und Schlachtenlärm.
     
    Das ›Buch‹. Mir war ein Verdacht gekommen und ich schlug es noch einmal auf. Der Einband war aus Leder, spröde und wettergegerbt, dick und dunkel, seltsame Siegel waren hineingeprägt – ein Muster wie ein Auge, ein Kreis in einer Ellipse, mit kleineren Halbkreisen an den äußeren Rändern: ganz rechts und ganz links, ganz unten leicht nach rechts und ganz oben leicht nach links versetzt; darüber gelegt, aber etwas versetzt, ein Rechteck. Der geprägte Rahmen darum herum sah beinahe aus wie die gestohlenen Baupläne, die ich auf den Boden hatte fallen lassen. Ich schaute mich um und sah meinen Verdacht bestätigt – alles passte zusammen. Der große rechteckige Raum mit dem Eingang in der Ecke unten rechts; die Mauer linker Hand dicker, wie es sich gehörte, schließlich war sie eine tragende Wand für das Gebäude darüber; die beiden Sockelwände, die auf beiden Seiten einen Fuß weit in den Raum hineinragten, wie bei einem Durchbruch in der eigentlichen Brandmauer, zu einem Alkoven erweitert. Die winzige Nische am rückwärtigen Ende, die ich hinter einem großen Bücherschrank mit Glastüren entdeckt hatte und die auf den gestohlenen Plänen kaum sichtbar war, nur ganz dünn mit Bleistift eingezeichnet, alles andere dagegen mit Tinte.
     
    Mein Gewissen regte sich, als ich all die Werke von Aristoteles und Nostradamus, Molière und wer weiß wem auf dem Boden liegen sah. Ich hatte sie unachtsam aufeinandergestapelt, damit ich den massiven Bücherschrank zur Seite wuchten konnte. Unschätzbare Ausgaben aus der Sammlung der Universität – Bücher, für die ein Student den Namen seines Tutors und den Forschungsgegenstand angeben musste, um sie sich ausleihen zu können. Sie wurden ihm dann vom Kustos in den Lesesaal im Obergeschoss gebracht, wo man sie behutsam vor ihn auf eine Filzunterlage auf dem Tisch bettete  – Bücher, deren brüchige Seiten mit größter Vorsicht umgeblättert werden mussten, damit sie nicht zu Staub zerfielen. Und ich hatte sie wie Taschenbücher misshandelt, die man achtlos auf den Boden warf, um seine Möbel umzuräumen. Doch im Vergleich mit dem ›Buch‹ waren sie wertlos; waren selbst die Kostbarsten bereits Staub.
     
    Ich versuchte das Blut abzuwischen, das mir über die Stirn lief, und schlug das ›Buch‹ erneut auf, auf der ersten Seite.
     
     
    Das Ewige Stundenbuch
     
    Das Ewige Stundenbuch, so nannten es die Benediktiner im Mittelalter. Sie glaubten, es wäre Gottes Variante des prächtigen Stundenbuches irgendeines Herzogs – jene Stunde um Stunde, Tag um Tag, Monat um Monat umfassenden Wälzer der Zeremonien und frommen Betrachtung, von Mönchen im Kerzenschein mit Tinte geschrieben, in strahlenden Farben auf Velin – auf Vellum – gemalt, dem Pergament aus der Haut ungeborener Kälber, blass und doch reich an Farbtönen, nicht
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