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Endstation Nippes

Titel: Endstation Nippes
Autoren: Ingrid Strobl
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EINS
    »Na, komm, Süße«, flötete ich, »dir passiert schon nichts!« Ich stand vor dem Fenster in meinem Schlafzimmer, in der linken Hand ein Wasserglas, in der rechten ein Stück Pappe. Vor mir, auf dem Store, vier Motten. Am Vortag hatte ich zwei von den Monstern erschlagen, bevor sie sich in meinen Kleiderschrank einschleichen konnten. Und prompt ein schlechtes Gewissen bekommen. Als Bodhisattva-Azubi gelobe ich jeden Morgen, keinem fühlenden Wesen ein Leid zuzufügen. Und Motten zählen, zumindest nach buddhistischer Rechnung, auch zu den fühlenden Wesen. Ich sehe das anders, aber ein schlechtes Gewissen hatte ich trotzdem. Ich stupste das Exemplar, das sich am weitesten unten in den Store krallte, leicht mit der Pappe an und hielt das Glas darunter. Es fiel tatsächlich rein, ich konnte mein Glück kaum fassen. Dafür flogen die anderen drei auf und waren nicht mehr zu sehen. Vermutlich waren sie nonstop auf dem Weg zu meinen Pashmina-Schals.
    Euch kriege ich auch noch, murmelte ich etwas verkniffen vor mich hin und trug das Glas an das Küchenfenster, das ich schon vorsorglich geöffnet hatte. Hielt es eine Armlänge raus und nahm die Pappe ab. Die Motte stieg hoch wie eine Rakete von der Abschussbasis, breitete die Flügel aus, schwebte zurück in meine Küche und landete schließlich auf der Arbeitsplatte. Wo sie dummerweise (für sie) sitzen blieb. Mein Instinkt war schneller als mein buddhistisches Gewissen. Ich klatschte ihr die Pappe drüber – und hatte mal wieder grauenhaft schlechtes Karma angehäuft.
    Ich steckte mir eine Zigarette an und riskierte einen kleinen Disput zwischen meinem Ego-Ego und meinem Besseren Ich. (Den Zustand der Ichlosigkeit habe ich trotz jahrelanger Bemühungen leider noch nicht erreicht. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.)
    »Okay«, sagte Ego-Ego, »ich habe ein fühlendes Wesen getötet. Das ist schrecklich. Das sollte ich nicht tun. Aber was ist mit meinen Wollsachen? Mit meinen nepalesischen Pashmina-Schals zum Beispiel? Was ist mit den Frauen, die sie so kunstvoll gewebt haben? Was ist mit den süßen kleinen Schäfchen, die ihre Wolle dafür gegeben haben? Und das alles, nur damit diese gierigen Hungergeister von Motten sie jetzt auffressen?«
    »Schon mal was von Anhaftung gehört?«, fragte Besseres Ich zurück.
    »Ich hafte nicht an meinen Schals«, schnaubte Ego-Ego, »ich empfinde Wertschätzung für sie!«
    Besseres Ich seufzte.
    »Außerdem«, verstieg sich jetzt Ego-Ego, »was ist denn das für eine armselige Existenz, so ein Mottenleben? Jetzt hat sie vielleicht eine bessere Wiedergeburt.«
    Besseres Ich sagte gar nichts. Was sollte es darauf auch erwidern? Ich schämte mich für Ego-Ego in Grund und Boden.
    Während ich also schamvoll zu Boden blickte, sah ich Motte Nummer zwei auf selbigem herumkriechen.
    Und jetzt?
    Bevor ich eine Entscheidung treffen konnte, klingelte es an der Tür. Ich öffnete und ließ Nele herein, meine Freundin und Nachbarin. Wenn ich jetzt ganz, ganz ehrlich sein soll: Ich hoffte insgeheim, dass Nele versehentlich auf die Motte trat. Aber sie blieb stocksteif im Flur stehen.
    »Hörma«, sagte sie und sah mich finster an, »ich sag’s dir besser direkt. Meine UK is positiv.«
    »Schore oder Benzos?«, fragte ich zurück.
    »Schore.«
    Nele ist seit einem guten halben Jahr im Methadon-Programm. Und seit exakt ebenso langer Zeit beikonsumfrei. Ihre Urinkontrollen waren jedes Mal negativ, worauf sie gebührend stolz war. Und jetzt hatte sie Heroin genommen. Scheiße!
    »Scheiße«, sagte ich.
    »Hörma«, gab sie zurück, »das war ‘n Ausrutscher, echt. Da müsst ihr jetzt nicht gleich so ‘n Wind drum machen!«
    Ich konnte mich nicht erinnern, Wind gemacht zu haben.
    »Und wieso?«, fragte ich.
    »Keine Ahnung.«
    »Willst du nicht reinkommen?«
    Sie setzte sich an den Küchentisch. »Du hast Motten«, verkündete sie und schlug zu. Das gemeuchelte Tier lag in Form von Matsche auf meinem Esstisch. Ich entsorgte es mit einem Tempotuch und warf es in den Mülleimer.
    Ich musste in spätestens einer halben Stunde los, zu einem Interview, von dem ich ahnte, es würde ziemlich schwierig werden, und auf das ich mich eigentlich noch vorbereiten wollte. Eigentlich. Ich warf die Espressomaschine an. Die Dame bevorzugt Kaffee, aber dafür war keine Zeit. Ich lehnte mich gegen die Spüle und sah Nele fragend an.
    »Ich hab die Bea getroffen. Zufällig. Dann sind wir zu ihr. Und der ihr neuer Freund, der war grade am Blowen. Die
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