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Endstation Nippes

Titel: Endstation Nippes
Autoren: Ingrid Strobl
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Ganz schön mutig. Und letztens hatte sie mir die Pflegemutter vermittelt, die grade nicht am Bahnhof erschienen war. Sie ging nicht dran, und es sprang auch kein AB an, also ließ ich es gut sein. Suchte bei Google nach Links zum Thema Pflegeeltern und Pflegekinder. Las ein paar PDF -Dateien durch, eine langweiliger als die andere. Ich könnte die Pflegemutter von Jessica fragen, überlegte ich. Falls Nele mich an die ranlässt.
    Nele hat eine zehnjährige Tochter. Als sie mit ihr schwanger war, wurde sie clean. Dem Kind zuliebe. Das Baby war ihr Schatz, ihr Traummädchen, ihre Hoffnung. Aber dann schrie es die Nächte durch. Bis Nele es nicht mehr aushielt. Und wieder draufkam. Woraufhin das Jugendamt ihr die Kleine wegnahm und sie in eine Pflegefamilie gab. Seither hatte Nele Jessica nicht mehr gesehen. Bis vor einem Monat. Da hatte sie den Kontakt zu ihr aufgenommen. War hingefahren und hatte das Mädchen besucht. War heulend zurückgekommen. Die Kleine hatte kein Wort mit ihr gesprochen. Aber, hatte Nele schließlich erzählt, die Leute, bei denen Jessica lebte, waren nett zu ihr gewesen. Hatten ihr angeboten, wiederzukommen, und gemeint, das brauche einfach Zeit, sie solle nicht aufgeben. »Die sind echt cool«, hatte Nele erstaunt festgestellt. »Der Typ hat lange Haare, ‘n grauen Pferdeschwanz, und sie sieht aus wie so ‘n Hippie. ‘n Althippie.« An der Stelle hatte sie endlich wieder gelächelt. Und hinzugefügt: »Die sind, glaub ich, auch Buddhisten.« Gegen Buddhisten hat Nele nichts, ganz im Gegenteil. Wir haben uns schließlich kennengelernt, weil sie meditieren lernen wollte.
    Ich surfte noch eine Weile herum, dann gab ich auf. Goss mir ein großes Glas O-Saft ein, machte mir einen Teller mit Crackern, Oliven und Schafskäse, legte mich aufs Sofa und starrte auf die Birke vor meinem Fenster. Der Junge ging mir nicht aus dem Kopf. Dieser Gesichtsausdruck, den ich nicht deuten konnte. Da war etwas Verstörtes, aber auch etwas – ja, was? Seine seltsame Art zu fragen. Und warum wollte er zwei Ciabattas? Er hatte nur eines sofort gegessen. Wollte er sich das andere aufheben? Oder es jemand anderem geben?
    Ich steckte mir eine Olive und ein Stück Käse in den Mund. Kaute darauf herum. Und plötzlich wusste ich es: Er wirkte wie ein gequältes Tier, das sich nicht wehren kann. Der Junge sah aus wie das geborene Opfer.
    Rosa sprang auf meinen Schoß, der Teller kippte herunter, Oliven und Co verteilten sich auf dem Teppich.
    »Liebchen«, seufzte ich, »musste das jetzt sein?« Aber Rosa konzentrierte sich auf die Oliven. Sprang wieder runter von meinem Schoß und spielte mit den fetttriefenden Dingern Fangen. I was not amused . Ich erhob mich widerwillig und sammelte das Essen ein. Meine Mitbewohnerin maunzte beleidigt. »Du hast Nerven!«, beschied ich sie, aber die Hitze macht mich zu träge, um ernsthaft zu protestieren. Es war der heißeste Tag seit Wochen, und jetzt stöhnte janz Kölle, das sei ja nicht auszuhalten. Nachdem vorher alle gejammert hatten, das sei ja kein Sommer. Und das mit der Klimaerwärmung würde sich ja wohl woanders abspielen.
    Nachdem ich die Schweinerei halbwegs aufgewischt hatte, drehte ich mir eine kleine Tüte. Studierte mein CD -Regal und entschied mich schließlich für Nirvana, »Unplugged in New York«. Legte mich wieder aufs Sofa und machte mir den Joint an. Sah plötzlich Walter vor mir. Ich setzte mich mit einem Ruck auf. An den hatte ich seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr gedacht. Der kleine Walter! Ich holte mir das Telefon und rief meine Mutter an. Fragte erst mal, wie es ihr und Papa ging. So weit ganz gut. Papa musste noch dreimal zur Bestrahlung, dann hatte er es hinter sich. Schließlich fragte ich: »Mama, weißt du, was aus dem kleinen Walter geworden ist?«
    »Och, Schätzchen«, erwiderte meine Mutter und seufzte. »Das is was lange her, ne? Die Hackenbroichs sind dann ja auch weggezogen. Der Erwin, weißte, der Große, der war ja im Klingelpütz. Und wie der wieder rausgekommen ist, da war der mal bei uns. Meinte, ob der Papa ihm ‘n Job in der Werkstatt besorgen könnte. Hat aber nich geklappt. Der konnt ja nix, der Jung. Der hatte noch nich mal ‘n Schulabschluss. Aber der Kleine? Keine Ahnung.« Sie seufzte erneut. »Das war ‘n Lieber, ne?«
    War er.
    »Wie kommste jetzt auf den?«
    Ich erzählte ihr von dem Jungen am Bahnhof.
    »Ach Mensch, dat Herzchen«, meinte sie. »Wennde den noch mal siehst, musste ihm direkt was zu essen
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