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Götterdämmerung (German Edition)

Götterdämmerung (German Edition)

Titel: Götterdämmerung (German Edition)
Autoren: Angela Schwarzer
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Null
     
     
    22. April 2033
     
    Die Zahlen marschierten wie Soldaten über den Bildschirm. Der Mann mit den eisblauen Augen beobachtete die grauen Kolonnen stumm, die Zunge gegen den Gaumen gepresst. Er ahnte bereits, dass er es geschafft hatte, aber er wagte es nicht, den Triumph zuzulassen. Noch nicht. Zu oft schon hatte er erleben müssen, dass von seiner Euphorie am Ende nur ein bitterer Nachgeschmack übrig blieb.
    Er war jetzt Mitte Fünfzig und seit er das Projekt leitete, gehörten Misserfolge zu seinem Alltag. Inzwischen hatte er gelernt, damit umzugehen. Man durfte nicht zu viel darüber nachdenken, vor allem aber durfte man nicht aufgeben.
    Die Zahlenkolonnen auf dem Monitor lösten sich auf. Dann endlich kam die erlösende Meldung: Programm erfolgreich beendet.
    Der Mann blinzelte. Das Eis in seinen Augen begann zu schmelzen. Sein Blick verschwamm. Langsam drehte er sich um. Außer ihm waren noch zwei Männer und eine Frau im Raum – seine engsten Mitarbeiter. Einer der beiden Männer hielt eine ungeöffnete Sektflasche in der Hand. Es roch nach verbranntem Staub. Das Summen der Geräte war verstummt.
    Der Wissenschaftler maß die Sektflasche mit kühlem Blick. „Vor uns liegt noch viel Arbeit“, sagte er abweisend. Sein Mitarbeiter stellte die Flasche auf den Tisch und schob sie hinter den riesigen Monitor, sodass sie kaum mehr zu sehen war.
    „Was machen wir mit ihm?“, fragte seine Assistentin, eine junge blonde Frau. Sie wies auf einen Mann, der vor einem der Geräte auf einer Liege lag. Sein Brustkorb hob und senkte sich in regelmäßigen Abständen. Die Augen waren geschlossen
    „Schalten Sie die Lebenserhaltungssysteme ab. Wir haben alles, was wir brauchen.“
    Sie nickte und verschwand. Die Stahltür krachte hinter ihr ins Schloss.
    Der Wissenschaftler wartete noch zwei Atemzüge lang, dann verließ auch er das Labor. Er gab seinen beiden Mitarbeitern keine weiteren Anweisungen, schenkte ihnen kein Wort des Abschieds, schon gar keine Glückwünsche. In diesem Augenblick schien jede Äußerung unpassend. Es gab keine Worte für das, was gerade mit ihnen passierte.
    Langsamer als sonst ging er zum Fahrstuhl. Fuhr nach oben in sein Büro. Lief zum Fenster. Sah auf die Stadt hinab. Alles erschien ihm so unwirklich: Die Straße mit ihren unzähligen Fahrzeugen und Passanten, die Silhouette der Hochhäuser gegenüber, selbst der Raum, in dem er sich befand – und natürlich sein Erfolg. Der vor allem.
    Er hatte so lange an seinem Lebenstraum, seinem Experiment, gearbeitet, dass ihm die vielen Versuche und Niederlagen wie der Normalzustand vorgekommen waren. Aber der Normalzustand löste sich gerade auf.
    Ein neues Zeitalter begann.

Eins
     
     
    28. Oktober 2045
     
    Ben Maiwald verspürte ein mulmiges Gefühl in der Magengegend.
    Gerade durchquerte er den Scannerbereich des Supermarktes, wo ein elektromagnetisches Feld in Sekundenschnelle die Informationen auf seiner Paycard und den Chips auf den Verpackungen las, sie speicherte und an die zuständige Bank weiterleitete. Die Klimaanlage pustete arktisch kalte Luft in sein Gesicht. Es waren jedoch weder Scanner noch Klimaanlage, die ihm Unbehagen bereiteten, sondern der Mann in der Schlange hinter ihm. Ben fühlte sich von ihm beobachtet.
    Unauffällig drehte der Junge sich um. Der Fremde schien um die zwanzig Jahre alt zu sein, er hatte schulterlange dunkle Haare und trug einen schwarzen Ledermantel, der bis auf den Boden reichte. Er sah Ben nicht an, kümmerte sich überhaupt nicht um ihn. Mit gesenktem Kopf las er das Etikett einer schmalen Flasche, die er in der Hand hielt. Offenbar war diese Flasche das Einzige, was er kaufen wollte. Der Mann schien vollkommen in Gedanken versunken, aber seine Gesichtszüge wirkten starr und aufgesetzt wie die eines schlechten Schauspielers. Der Supermarkt war trotz der späten Stunde gut besucht. Normalerweise wäre ihm der Mann überhaupt nicht aufgefallen, doch hatte er etwas an sich, das Ben frösteln ließ.
    Endlich war der Scanvorgang beendet. Die Glastür öffnete sich und Ben trat ins Freie. Zügig schob er seinen Wagen über den Parkplatz. Er hatte nicht viel eingekauft: ein paar Joghurt, Brot und Eier für das Abendessen. Den Rest würde ein Lieferservice bringen. Es war eigentlich nicht nötig, dass er überhaupt einkaufte und Ben hatte lange auf seine Eltern einreden müssen, damit sie es ihm erlaubten. Seine Mutter war übertrieben ängstlich und ständig in Sorge, dass ihm etwas passieren
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