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Gefährlicher Fremder - Rice, L: Gefährlicher Fremder

Gefährlicher Fremder - Rice, L: Gefährlicher Fremder

Titel: Gefährlicher Fremder - Rice, L: Gefährlicher Fremder
Autoren: Lisa Marie Rice
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    Summerville, Washington
Obdachlosenunterkunft St. Jude
Heiligabend
    Er brauchte Caroline, so wie er Licht und Luft brauchte. Mehr noch.
    Der hochgewachsene, ausgemergelte und in Lumpen gekleidete Junge erhob sich. Neben ihm lag der leblose Körper seines Vaters auf dem eisigen Betonboden des Heims.
    Sein Vater lag schon seit langer Zeit im Sterben – den größten Teil seines Lebens, um genau zu sein. Ein Teil von ihm war schon immer des Lebens überdrüssig gewesen. Der Junge konnte sich nicht erinnern, wann sein Vater zuletzt sauber und nüchtern gewesen war. Eine Mutter hatte er nicht. Sein ganzes Leben lang waren sie immer nur zu zweit gewesen, Vater und Sohn, die sich von einem Heim zum nächsten treiben ließen, wo sie blieben, bis sie rausgeschmissen wurden.
    Der Junge stand einen Moment lang da und sah auf seinen einzigen Blutsverwandten auf dieser Welt hinunter, der inmitten einer Lache aus Erbrochenem und Kot lag. Noch hatte niemand die Leiche seines Vaters bemerkt. Niemand nahm je Notiz von ihnen oder sah auch nur in ihre Richtung, wenn es sich vermeiden ließ. Selbst die anderen verlorenen, hoffnungslosen Seelen in den Heimen erkannten jemanden, dem es noch schlechter ging als ihnen, und mieden ihn nach Möglichkeit.
    Der Junge blickte sich um, sah die abgewandten Gesichter, die auf den Boden gerichteten Augen. Niemanden interessierte es, dass dieser Säufer nicht wieder aufstehen würde. Niemanden interessierte es, was mit seinem Sohn geschah.
    Hier war nichts, was den Jungen noch hielt. Gar nichts.
    Er musste Caroline finden.
    Und er musste schnell handeln, bevor sie herausfanden, dass sein Vater tot war. Sobald sie die Leiche hier entdeckten, würden Polizei und Sozialarbeiter und das Jugendamt kommen, um ihn abzuholen. Er war achtzehn, konnte es aber nicht beweisen. Und er wusste genug über die Art und Weise, wie es auf dieser Welt zuging, um sicher zu sein, dass er ein Mündel des Staates werden würde. Man würde ihn in irgendein gefängnisartiges Waisenhaus einsperren.
    Nein. Auf gar keinen Fall. Lieber würde er sterben.
    Der Junge bewegte sich auf die Treppe zu, die ihn aus dem Heim in den eisigen, regnerischen Nachmittag führen würde.
    Eine alte Frau sah auf, als er an ihr vorbeikam. In ihren trüben Augen flackerte ein Wiedererkennen auf. Susie. Die alte, zahnlose Susie. Sie hatte sich nicht im Alkohol verloren wie sein Vater. Sie hatte sich in den dunstigen Tiefen ihrer eigenen Gedanken verloren.
    »Ben, Schokolade, Schokolade?«, gackerte sie und schmatzte mit ihren runzligen, wulstigen Lippen. Er hatte sich mal einen Schokoriegel mit ihr geteilt, den Caroline ihm geschenkt hatte, und seitdem bettelte Susie ihn ständig um Süßigkeiten an.
    Hier kannte man ihn als Ben. Im letzten Heim – Portland, oder war es doch anderswo? – hatte sein Vater ihn Dick genannt. Es verschaffte ihnen immer ein bisschen Zeit, ihn nach dem Leiter des Heims zu nennen. Aber nicht genug. Irgendwann hatten sie die Wutanfälle seines besoffenen Vaters satt und fanden einen Weg, sie an die Luft zu setzen.
    Susies Hände, mit ihren langen, schwarzen, rissigen Fingernägeln, griffen nach ihm. Ben blieb stehen und hielt ihre Hand für einen Moment. »Keine Schokolade, Susie«, sagte er sanft.
    Ihre Augen füllten sich mit Tränen wie die eines Kindes. Ben beugte sich hinab und küsste sie auf ihre schmutzige, runzlige Wange. Dann rannte er die Treppe hinauf und ins Freie hinaus.
    Ohne zu zögern, bog er in die Morrison Street ein. Er wusste genau, wohin er gehen würde. Nach Greenbriars. Zu Caroline.
    Zur einzigen Person auf dieser Erde, der etwas an ihm lag. Zur einzigen Person, die ihn wie ein menschliches Wesen behandelte und nicht wie ein halbwildes Tier, das nach dreckiger Kleidung und fauligem Essen roch.
    Ben hatte seit zwei Tagen nichts gegessen, und er trug nur eine viel zu kurze Baumwolljacke, die der Kälte nichts entgegenzusetzen hatte. Seine großen, knochigen Handgelenke ragten aus den Jackenärmeln hervor, und er musste die Hände in seine Achselhöhlen schieben, um sie warm zu halten.
    Egal. Es war nicht das erste Mal, dass er hungerte und fror.
    Die einzige Wärme, nach der er sich in dieser Sekunde sehnte, war Carolines Lächeln.
    Wie die Nadel eines Kompasses sich nach Norden ausrichtet, so lehnte er sich in den Wind, um die anderthalb Meilen nach Greenbriars zu marschieren.
    Niemand beachtete ihn auf dem Weg dorthin. Er war unsichtbar. Eine einsame, hochgewachsene, in Lumpen gekleidete
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