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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo
Autoren: Paul Auster
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Dass ich in seiner Gegenwart den Mund halten sollte, machte alles nur noch schlimmer. Ein paar passende Bemerkungen hätten mir sicher geholfen, ein bisschen Dampf abzulassen, aber ich hatte den Finger des Meisters unter meinem Kinn nicht vergessen und war nicht geneigt, mich dieser Folter noch mal zu unterwerfen.
    Das Schlimmste dabei war, dass meine Verachtung Äsop offenbar völlig kalt ließ. Ich studierte ein ganzes Repertoire finsterer Blicke und Grimassen für ihn ein, aber wann immer ich ihm eine zeigte, schüttelte er bloß den Kopf und schmunzelte in sich hinein. Ich kam mir vor wie ein Trottel. Sosehr ich mich bemühte, ihn zu verletzen, er ließ sich nie aus der Fassung bringen, verschaffte mir nie die Befriedigung, einen Treffer gelandet zu haben. Er gewann nicht bloß einfach den Krieg zwischen uns, nein, er gewann jede einzelne Schlacht dieses verdammten Krieges. Dass ich bei einem fairen Austausch von Beleidigungen nicht mal so einen schwarzen Teufel schlagen konnte, überzeugte mich davon, dass die ganze Prärie von Kansas verhext war. Sie hatten mich in ein Land der bösen Träume verschleppt, und je mehr ich zappelte, um endlich aufzuwachen, desto unheimlicher wurde der Albtraum.
    «Du strengst dich zu sehr an», sagte Äsop eines Nachmittags zu mir. «Du bist so eingenommen von deiner Rechtschaffenheit, dass du für die Dinge in deiner Umgebung blind geworden bist. Und wenn du nicht sehen kannst, was dir vor der Nase liegt, wirst du dich niemals selbst betrachten und herausfinden können, wer du bist.»
    «Ich weiß, wer ich bin», sagte ich. «Das kann mir keiner nehmen.»
    «Der Meister nimmt dir nichts weg. Er schenkt dir die Gabe der Größe.»
    «Tu mir einen Gefallen, ja? Sprich nie von diesem Gauner, wenn ich in der Nähe bin. Ich kriege Zustände, wenn ich diesen deinen Meister sehe, und je weniger ich an ihn denken muss, desto besser fühle ich mich.»
    «Er hat dich sehr gern, Walt. Er glaubt mit jeder Faser seines Herzens an dich.»
    «Von wegen. Dieser Betrüger kümmert sich doch nicht die Bohne um irgendwas. Ein Zigeunerkönig, das ist er, und falls er überhaupt ein Herz hat – was für mich noch sehr die Frage ist –, dann ist es durch und durch böse.»
    «Zigeunerkönig?» Äsops Augen traten verwundert hervor. «Ist das dein Ernst?» Er fand das offenbar sehr komisch, denn gleich darauf prustete er los und hielt sich den Bauch vor Lachen. «Du hast wirklich gute Witze auf Lager», sagte er und wischte sich die Tränen aus den Augen. «Wie bist du denn bloß auf diese Idee gekommen?»
    «Na ja», sagte ich und spürte, wie mir die Wangen vor Verlegenheit rot anliefen, «wenn er kein Zigeuner ist, was zum Teufel ist er dann?»
    «Ein Ungar.»
    «Ein was?», stammelte ich. Es war das erste Mal, dass ich dieses Wort zu hören bekam, und ich war so perplex, dass es mir vorübergehend die Sprache verschlug.
    «Ein Ungar. Er wurde in Budapest geboren und kam als kleiner Junge nach Amerika. Aufgewachsen ist er in Brooklyn, und sein Vater und sein Großvater waren Rabbiner.»
    «Und was ist das nun wieder, vielleicht so ’ne Art Nagetier?»
    «Ein jüdischer Lehrer. So etwas wie ein Priester oder Geistlicher, nur für Juden.»
    «Na bitte», sagte ich, «da hast du’s. Das erklärt doch wohl alles. Also noch schlimmer als Zigeuner – der alte Finsterling ist Jude. Was Schlimmeres gibt’s auf dem ganzen miesen Planeten nicht.»
    «Das solltest du ihn lieber nicht hören lassen», sagte Äsop.
    «Ich weiß schon, was ich darf», sagte ich. «Und von einem Juden lass ich mich nicht rumschubsen, das schwör ich dir.»
    «Immer mit der Ruhe, Walt. Sonst kommst du in Teufels Küche.»
    «Und was ist mit dieser Hexe, Mutter Sue? Ist das etwa auch so eine?»
    Äsop schüttelte den Kopf und sah zu Boden. Meine Stimme kochte dermaßen vor Wut, dass er sich nicht traute, mir in die Augen zu sehen. «Nein», sagte er. «Sie ist eine Sioux vom Stamm der Oglala. Ihr Großvater war der Bruder von Sitting Bull, und in ihrer Jugend war sie die beste Voltigiererin in Buffalo Bills Wildwest-Show.»
    «Du willst mich verarschen.»
    «Das würde mir nicht im Traum einfallen. Was ich dir sage, ist die reine, ungeschminkte Wahrheit. Du wohnst mit einem Juden, einem Schwarzen und einer Indianerin unter einem Dach, und je eher du die Tatsachen akzeptierst, desto wohler wirst du dich hier fühlen.»
    Bis dahin hatte ich drei Wochen lang durchgehalten, aber nach dieser Unterhaltung mit Äsop stand für
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