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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo
Autoren: Paul Auster
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mich fest, dass ich Schluss machen musste. Noch in der gleichen Nacht habe ich das Weite gesucht – erst gewartet, bis alle schliefen, dann bin ich aus dem Bett gekrochen, leise die Treppe hinunter und auf Zehenspitzen hinaus in die eisige Dezemberfinsternis. Kein Mond am Himmel, kein einziger Stern, der mir leuchtete, und kaum war ich über die Schwelle, wurde ich von einem heftigen Windstoß erfasst und an die Hauswand zurückgeschleudert. Gegen diesen Wind waren meine Knochen nicht kräftiger als Watte. Die Nacht war in lärmendem Aufruhr, es brauste und dröhnte, als würde die Stimme Gottes brüllend ihren Zorn auf jedes Wesen herabschleudern, das töricht genug war, sich dagegen aufzulehnen. Ich war ein solcher Tor, und immer wieder stemmte ich mich vom Boden hoch, warf mich in den Rachen des Mahlstroms und versuchte mich Schritt für Schritt, kreiselnd wie ein Windrädchen, durch den Garten zu kämpfen. Nach zehn, zwölf Versuchen war ich vollkommen erschöpft, ausgelaugt und am Ende. Ich hatte es bis zum Schweinestall geschafft, und grade als ich mich wieder hochrappeln wollte, wurde mir schwarz vor Augen, und ich verlor das Bewusstsein. Stunden vergingen. Als ich im Morgengrauen erwachte, sah ich mich von vier schlummernden Schweinen umringt. Ohne die Tiere wäre ich in dieser Nacht wohl erfroren. Aus heutiger Sicht kommt mir das wie ein Wunder vor, aber als ich an dem Morgen die Augen aufschlug und sah, wo ich war, sprang ich nur auf, spuckte aus und verfluchte mein verdammtes Pech.
    Ich hegte keinen Zweifel, dass Meister Yehudi dafür verantwortlich war. In diesem Frühstadium unserer gemeinsamen Geschichte schrieb ich ihm alle möglichen übernatürlichen Kräfte zu; für mich stand fest, dass er diesen wilden Sturm entfesselt hatte, um meine Flucht zu vereiteln. In den Wochen danach gingen mir eine Menge wüster Theorien und Spekulationen durch den Kopf. Die unheimlichste davon hatte mit Äsop zu tun – mit meiner zunehmenden Gewissheit, dass er als Weißer auf die Welt gekommen war. Eine schreckliche Vorstellung, für die jedoch alles zu sprechen schien. Redete er nicht wie ein Weißer? Handelte er nicht wie ein Weißer, dachte er nicht wie ein Weißer, spielte er nicht Klavier wie ein Weißer? Seine Haut war schwarz, aber warum sollte ich meinen Augen trauen, wenn mir mein Gefühl was anderes sagte? Es gab nur eine Antwort: Er war als Weißer auf die Welt gekommen. Vor vielen Jahren hatte der Meister ihn als ersten Schüler in der Kunst des Fliegens ausersehen. Er hatte ihm befohlen, vom Dach der Scheune zu springen, und Äsop war gesprungen – doch statt auf den Windströmungen zu reiten und durch die Luft zu segeln, war er zu Boden gestürzt und hatte sich sämtliche Knochen im Leib gebrochen. Das erklärte seine erbärmliche schiefe Gestalt; doch damit nicht genug: Meister Yehudi hatte ihn für sein Versagen auch noch bestraft. Die Macht von hundert jüdischen Dämonen beschwörend, hatte er den Finger auf seinen Schüler gerichtet und ihn in einen grässlichen Nigger verwandelt. Äsops Leben war zerstört, und ich zweifelte nicht daran, dass mir das gleiche Schicksal bevorstand. Am Ende würde ich nicht bloß schwarz und verkrüppelt, sondern auch noch gezwungen sein, den Rest meines Lebens mit dem Studium von Büchern zu verbringen.
    Das zweite Mal riss ich an einem Nachmittag aus. Da mir die Nacht mit ihrer Magie einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte, konterte ich mit einer neuen Strategie und verdrückte mich am helllichten Tag; wenn ich den Weg vor mir sähe, rechnete ich mir aus, würde ich irgendwelchen Kobolden schon ausweichen können. In den ersten ein, zwei Stunden verlief alles nach Plan. Gleich nach dem Mittagessen verließ ich heimlich die Scheune und machte mich raschen Schritts nach Cibola auf, um vor Einbruch der Dunkelheit dort einzutreffen und einen Güterzug zu besteigen, der mich in den Osten zurückbringen sollte. Wenn alles gutging, konnte ich in vierundzwanzig Stunden über die Boulevards des guten alten Saint Louis schlendern.
    Da trabte ich also in Gesellschaft von Krähe und Feldmaus die flache staubige Straße entlang und wurde mit jedem Schritt zuversichtlicher, bis ich irgendwann einmal aufblickte und weit vor mir einen Pferdekarren auf mich zukommen sah. Er hatte erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Wagen, der Meister Yehudi gehörte, aber den hatte ich eben noch in der Scheune gesehen; Zufall, dachte ich und ging weiter. Als ich bis auf ungefähr zehn Meter
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