Mr. Vertigo
ich nicht auf. Ich musste mich eben einfach schlauer anstellen, mit mehr System zu Werke gehen. Nach ausgiebigem Nachdenken kam ich zu dem Schluss, dass der Hauptgrund für meine Schwierigkeiten die Farm selbst war. Ich kam nicht weg, weil dort alles so gut organisiert war, weil wir völlig autark lebten. Milch und Butter bekamen wir von den Kühen, Eier von den Hühnern, Fleisch von den Schweinen; wir hatten Gemüse im Keller und reichlich Mehl, Salz, Zucker und Tuch eingelagert, so dass keiner in den Ort musste, um die Vorräte aufzufüllen. Aber wie wär’s, wenn uns irgendwas ausginge, fragte ich mich, wie wär’s, wenn uns plötzlich was fehlen würde, ohne das wir nicht auskommen konnten? Dann musste der Meister doch wohl Nachschub holen? Und sobald er aus dem Haus war, würde ich mich verdrücken und das Weite suchen. Es war so einfach, ich wäre fast geplatzt vor Freude, als ich mir das ausgedacht hatte. Inzwischen muss es Februar gewesen sein, und in den nächsten vier Wochen dachte ich fast nur noch an Sabotage. Mir schwirrten zahllose Pläne und Anschläge im Kopf herum, ich träumte von unerhörten Terrorakten und Verwüstungen. Zunächst wollte ich klein anfangen – vielleicht ein paar Mehlsäcke aufschlitzen oder ins Zuckerfass pinkeln –, aber wenn das nicht zum erwünschten Ergebnis führte, würde ich auch vor eindrucksvolleren Akten des Vandalismus nicht zurückschrecken: Ich konnte zum Beispiel die Hühner aus dem Stall freilassen oder den Schweinen die Kehle aufschlitzen. Mir war jedes Mittel recht, um dort wegzukommen; notfalls hätte ich sogar das Stroh angezündet und die Scheune niedergebrannt.
Nichts davon klappte so, wie ich es mir ausgemalt hatte. Nicht dass es an Gelegenheiten mangelte, aber jedes Mal, wenn ich einen Plan ausführen wollte, verließ mich rätselhafterweise der Mut. Die Angst fuhr mir in die Lungen, mein Herz flatterte, und wenn ich die Hand schon zur Tat erhoben hatte, raubte mir irgendeine unsichtbare Macht jede Kraft. So was war mir noch nie passiert. Ich war immer ein ausgefuchster Ränkeschmied gewesen, der seine Launen und Regungen unter Kontrolle gehabt hatte. Wenn ich was tun wollte, dann tat ich es einfach, packte die Sache mit der Rücksichtslosigkeit des geborenen Banditen an. Aber jetzt war ich mattgesetzt, blockiert von einer seltsamen Willenslähmung; ich führte mich auf wie ein Feigling, verachtete mich dafür und konnte nicht begreifen, wie ein Herumtreiber meines Kalibers so tief hatte sinken können. Wieder war mir Meister Yehudi zuvorgekommen. Er hatte mich zu einer Marionette gemacht, und je heftiger ich mich gegen ihn wehrte, desto fester zog er an den Fäden.
Einen Monat lebte ich in Angst und Schrecken, ehe ich den Mut zu einem weiteren Versuch aufbrachte. Diesmal schien das Glück auf meiner Seite. Ich war noch keine zehn Minuten unterwegs, als mich ein Autofahrer einsteigen ließ. Er brachte mich nach Wichita und war so ziemlich der netteste Mensch, der mir je begegnet war, ein College-Schüler auf dem Weg zu seiner Verlobten; wir verstanden uns auf Anhieb und vertrieben uns die ganzen zweieinhalb Stunden mit Geschichtenerzählen. Seinen Namen habe ich leider vergessen. Er war ein rotblonder Schlaks mit Sommersprossen um die Nase und trug eine schicke kleine Ledermütze. Aus irgendeinem Grund erinnere ich mich an den Namen seiner Freundin, Francine, wohl weil er so viel von ihr gesprochen hat, vor allem und sehr ausführlich von ihren rosenroten Brustwarzen und ihrer spitzenbesetzten Unterwäsche. Ledermütze fuhr einen glänzenden neuen Ford Roadster, und er jagte damit den leeren Highway runter, als ob es kein Morgen gäbe. Ich fühlte mich so frei und glücklich, dass ich loskichern musste, und je länger wir rumblödelten, desto freier und glücklicher fühlte ich mich. Diesmal hast du’s wirklich geschafft, sagte ich mir. Die Flucht hat geklappt, und von jetzt an kann dich nichts mehr aufhalten.
Ich kann nicht genau sagen, wie ich mir Wichita vorgestellt habe, aber auf alle Fälle nicht als das langweilige Kuhdorf, das ich an diesem Nachmittag im Jahre 1925 zu Gesicht bekam. Es war das allerletzte Kaff, so fesselnd wie ein Pickel auf einem bleichen Arsch. Wo waren die Saloons, die Revolverhelden, die berufsmäßigen Falschspieler? Wo war Wyatt Earp? Was immer Wichita früher gewesen war, in seinem jetzigen Leben war es ein nüchternes, trostloses Durcheinander von Geschäften und Wohnhäusern, eine Stadt, die so flach am Boden
Weitere Kostenlose Bücher