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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo
Autoren: Paul Auster
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riecht nicht nur schlecht, sondern ist obendrein auch noch böse und hässlich. Kein Wunder, dass du so ein abgefeimter Gassenjunge geworden bist. Wir hatten heute Morgen ein langes Gespräch, dein Onkel und ich, und er ist bereit, dich ohne jede Gegenleistung meinerseits ziehen zu lassen. Stell dir das vor, Junge. Ich habe nichts für dich bezahlen müssen. Und diese aufgedunsene Schlampe, die er sein Weib nennt, hat einfach dabeigesessen und kein Wort zu deiner Verteidigung gesagt. Wenn das das Beste ist, was einer für seine Familie tun kann, dann sei froh, dass du die beiden los bist. Die Entscheidung liegt bei dir, aber selbst wenn du mein Angebot ausschlägst, wärst du gut beraten, nicht zu ihnen zurückzugehen. Sie wären bestimmt ziemlich enttäuscht, dich wiederzusehen, das kann ich dir sagen. Sprachlos vor Kummer, falls du verstehst, was ich meine.»
    Ich mag ja ein Tier gewesen sein, aber selbst das niederste Tier hat Gefühle, und die Neuigkeit, die mir der Meister da so plötzlich auftischte, traf mich wie ein Schlag in den Magen. Onkel Slim und Tante Peg waren gewiss nichts Besonderes, aber immerhin wohnte ich in ihrem Haus, und als ich hörte, dass sie mich nicht mehr haben wollten, fiel ich aus allen Wolken. Ich war schließlich erst neun Jahre alt. So abgebrüht ich für mein Alter auch gewesen sein mag, ich war doch längst nicht so abgebrüht, wie ich tat, und wenn der Meister nicht grade jetzt mit seinen dunklen Augen auf mich herabgeblickt hätte, wäre ich wohl mitten auf der Straße in Tränen ausgebrochen.
    Wenn ich heute an diese Nacht zurückdenke, weiß ich noch immer nicht recht, ob er mir die Wahrheit gesagt hat oder nicht. Er könnte mit meiner Tante und meinem Onkel gesprochen haben, aber er könnte die ganze Sache auch einfach erfunden haben. Dass er sie besucht hatte, steht außer Frage – seine Beschreibung traf haargenau zu –, aber wie ich meinen Onkel Slim kenne, halte ich es für ziemlich ausgeschlossen, dass er mich fortgelassen hätte, ohne dabei ein bisschen Bares rauszuschlagen. Ich will nicht behaupten, dass Meister Yehudi ihn verschaukelt hat, doch in Anbetracht der späteren Ereignisse muss sich der Mistkerl übervorteilt gefühlt haben, ob das Recht nun auf seiner Seite war oder nicht. Aber ich will meine Zeit jetzt nicht mit Rätselraten verschwenden. Am Ende habe ich mich jedenfalls durch das Gerede des Meisters breitschlagen lassen, und letztlich ist das die einzige Tatsache, die sich berichten lässt. Er hat mich davon überzeugt, dass ich nicht nach Hause zurückkonnte, und nachdem ich das geschluckt hatte, war mir alles andere egal. Genau das hat er wohl erreichen wollen – dass ich mich völlig durcheinander und verloren fühlte. Wenn man keinen Grund mehr sieht weiterzuleben, fällt es einem schwer, sich drum zu kümmern, was mit einem geschieht. Man sagt sich, am liebsten wäre man tot, und dann stellt man fest, dass man zu allem bereit ist – sogar zu der Verrücktheit, einfach mit einem Fremden in die Nacht zu verschwinden.
    «Okay, Mister», sagte ich, senkte die Stimme um zwei Oktaven und musterte ihn mit meinem besten Ganovenblick, «wir sind uns also einig. Aber wenn Sie Ihre Zusagen nicht einhalten, können Sie sich von Ihrer Birne verabschieden. Ich bin vielleicht klein, aber mit leeren Versprechungen lasse ich mich nicht abspeisen.»
    Es war noch dunkel, als wir in den Zug stiegen. Wir fuhren nach Westen in die Morgendämmerung, und während wir Missouri durchquerten, gab sich die schwache Novembersonne alle Mühe, durch die Wolken zu brechen. Seit der Beerdigung meiner Mutter war ich nicht mehr aus Saint Louis fortgekommen, und wie düster war die Welt, die ich an diesem Morgen entdeckte: öde und grau, und endlose Felder mit welken Maisstängeln zu beiden Seiten. Kurz nach Mittag dampften wir nach Kansas City hinein, aber in den vielen Stunden unseres Beisammenseins wird Meister Yehudi wohl kaum mehr als drei oder vier Worte zu mir gesagt haben. Die meiste Zeit schlief er, nickte, den Hut übers Gesicht gezogen, immer wieder ein, während ich vor Angst bloß ständig aus dem Fenster blicken konnte, die Landschaft vorbeigleiten sah und drüber nachdachte, in was für einen Schlamassel ich mich da geritten hatte. Meine Freunde in Saint Louis hatten mich vor Gestalten wie Meister Yehudi gewarnt: einzelgängerische Herumtreiber mit bösen Absichten, Perverse auf der Jagd nach kleinen Jungen, denen sie ihren Willen aufzwingen. Es war schon schlimm
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