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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo
Autoren: Paul Auster
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auf ein paar Lichter in den Häusern gegenüber gab es nirgendwo Anzeichen von Leben. «Keine Sorge», sagte Meister Yehudi, «wir werden gleich abgeholt.» Er versuchte mich bei der Hand zu nehmen, aber bevor er noch zupacken konnte, riss ich meinen Arm weg. «Behalten Sie Ihre Pfoten bei sich, Mr. Meister», sagte ich. «Sie denken vielleicht, ich gehör Ihnen jetzt, aber da haben Sie sich geschnitten.»
    Ungefähr neun Sekunden später erschien am Ende der Straße ein vierrädriger Wagen, der von einem grauen Pferd gezogen wurde. Das Ding erinnerte mich an einen Tom-Mix-Western, den ich diesen Sommer im Filmtheater gesehen hatte, aber verdammt noch mal, wir hatten 1924, und als ich dieses altmodische Vehikel auf uns zurumpeln sah, kam es mir vor wie eine Erscheinung. Doch siehe da, Meister Yehudi winkte, der graue Klepper machte genau vor uns halt und rückte mit schwer dampfenden Nüstern an den Bordstein heran. Das Wesen auf dem Kutschbock, eine dicke, untersetzte Gestalt, trug einen breitkrempigen Hut und war in Decken gehüllt, sodass ich zunächst nicht ausmachen konnte, ob es Männlein oder Weiblein war oder ein Bär.
    «Hallo, Mutter Sue», sagte der Meister. «Sieh mal, was ich gefunden habe.»
    Die Frau musterte mich ein paar Sekunden lang mit leerem, eisigem Blick und zauberte dann aus dem Nichts das herzlichste, freundlichste Lächeln auf ihr Gesicht, das ich je die Freude hatte, gewährt zu bekommen. Sie hatte höchstens noch zwei oder drei Zähne im Mund, und das Funkeln ihrer dunklen Augen ließ mich annehmen, dass sie eine Zigeunerin war. Mutter Sue, die Zigeunerkönigin. Und Meister Yehudi ihr Sohn, der Fürst der Finsternis. Sie entführten mich auf das Schloss ohne Wiederkehr, und wenn sie mich nicht gleich heute zum Abendessen verspeisten, würden sie mich zu ihrem Sklaven machen, einem unterwürfigen Eunuchen mit einem Ring im Ohr und einem Seidentuch um den Kopf.
    «Steig ein, Junge», sagte Mutter Sue. Sie hatte eine so tiefe, männliche Stimme, dass ich zu Tode erschrocken wäre, wenn ich nicht zuvor ihr Lächeln gesehen hätte. «Hinten sind ein paar Decken. Wenn du klug bist, nimmst du sie dir. Wir haben eine lange kalte Fahrt vor uns, und du musst dir ja nicht unbedingt den Arsch abfrieren.»
    «Er heißt Walt», sagte der Meister, als er neben sie auf den Bock kletterte. «Verkorkster Gassenjunge aus der übelsten Gegend. Wenn mein Gefühl mich nicht täuscht, ist er der, nach dem ich all die Jahre gesucht habe.» Dann drehte er sich nach mir um und sagte schroff: «Das ist Mutter Sue, Kleiner. Wenn du nett zu ihr bist, wird sie es dir mit Güte vergelten. Aber ein falsches Wort, und du verfluchst den Tag deiner Geburt. Mag sie auch fett und zahnlos sein, eine bessere Mutter als sie kannst du dir nicht wünschen.»
    Wie lange wir bis zum Haus gebraucht haben, weiß ich nicht. Es lag irgendwo draußen auf dem Land, sechzehn, siebzehn Meilen außerhalb, aber das erfuhr ich erst später; denn kaum hatte ich mich unter die Decken gelegt und der Wagen sich in Bewegung gesetzt, war ich eingeschlafen. Als ich die Augen wieder aufschlug, waren wir schon da, und wenn der Meister mich nicht mit einem Klaps auf die Wange geweckt hätte, hätte ich wohl bis zum nächsten Morgen durchgeschlafen.
    Während Mutter Sue den Gaul ausspannte, führte er mich ins Haus. Das erste Zimmer, das wir betraten, war die Küche: ein kahler, schlecht beleuchteter Raum mit einem Holzofen in der einen Ecke und einer flackernden Petroleumlampe in der anderen. Am Tisch saß ein etwa fünfzehn Jahre alter Schwarzer und las in einem Buch. Er war nicht braun wie die meisten Farbigen, die ich von zu Hause her kannte, sondern pechschwarz, so schwarz, dass es schon fast ins Blaue spielte. Ein echter Äthiopier, ein Negerkind aus den Dschungeln des finstersten Afrika, und mir blieb fast das Herz stehen, als ich ihn erblickte. Er war ein zierlicher, dünner Bursche mit vorquellenden Augen und wulstigen Lippen, und als er von seinem Stuhl aufstand, um uns zu begrüßen, sah ich, dass seine Knochen völlig krumm und schief waren, dass er den verdrehten, buckligen Körper eines Krüppels hatte.
    «Das ist Äsop», sagte der Meister zu mir, «der beste Junge, der je gelebt hat. Sag hallo zu ihm, Walt, und gib ihm die Hand. Er wird dein neuer Bruder sein.»
    «Mann, ich geb doch ’m Nigger nicht die Hand», sagte ich. «Wohl verrückt geworden, so was von mir zu erwarten.»
    Meister Yehudi ließ einen langen lauten Seufzer hören.
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