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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo
Autoren: Paul Auster
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genug, mir vorzustellen, wie er mich auszog und an Stellen berührte, an denen ich nicht berührt werden wollte; aber das war noch gar nichts im Vergleich zu den anderen Befürchtungen, die mir im Schädel herumspukten. Ich hatte von einem Jungen gehört, der mit einem Fremden mitgegangen und seither spurlos verschwunden war. Später gestand der Mann, den Burschen in kleine Stücke geschnitten, gekocht und aufgegessen zu haben. Ein anderer Junge war in einem dunklen Keller an die Wand gekettet worden und hatte sechs Monate lang bloß Brot und Wasser bekommen. Einem anderen hatten sie bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen. Jetzt, da ich Zeit hatte, über mein Tun nachzudenken, malte ich mir für mich selbst ganz ähnliche Konsequenzen aus. Ich hatte mich in die Klauen eines Ungeheuers begeben, und wenn der Mann sich auch nur als halb so gespenstisch entpuppte, wie er aussah, sprach alles dafür, dass ich an dem Morgen zum letzten Mal die Sonne hatte aufgehen sehen.
    Wir stiegen aus dem Zug und schoben uns durch die Menge über den Bahnsteig. «Ich habe Hunger», sagte ich und zupfte Meister Yehudi am Mantel. «Wenn Sie mir nicht gleich was zu essen besorgen, verpfeif ich Sie an den nächsten Bullen, der uns über den Weg läuft.»
    «Was ist mit dem Apfel, den ich dir gegeben habe?», fragte er.
    «Den hab ich aus’m Zugfenster geschmissen.»
    «Aha, wir machen uns nichts aus Äpfeln, wie? Und was ist mit dem Schinken-Sandwich? Ganz zu schweigen von der gegrillten Hähnchenkeule und der Tüte Doughnuts.»
    «Alles weggeschmissen. Sie erwarten doch nicht etwa, dass ich von Ihnen was zu essen annehme?»
    «Und warum nicht, kleiner Mann? Wenn du nichts isst, wirst du einschrumpfen und sterben. Das weiß doch jeder.»
    «Immerhin stirbt man auf die Weise langsam. Aber wenn man in was Vergiftetes beißt, verreckt man auf der Stelle.»
    Zum ersten Mal, seit ich Meister Yehudi kennengelernt hatte, sah ich ihn lächeln. Ja, wenn ich mich nicht irre, lachte er richtig. «Du meinst also, du vertraust mir nicht?»
    «Sie haben’s erfasst. Ich trau Ihnen nicht so weit, wie ich ein totes Muli werfen könnte.»
    «Keine Bange, du Knirps», sagte der Meister und klopfte mir zärtlich auf die Schulter. «Du bist mein Kapital, schon vergessen? Ich werde dir kein Haar krümmen.»
    Für mich war das bloß Gelaber; ich war nicht so dumm, auf dieses Süßholzgeraspel hereinzufallen. Aber dann griff Meister Yehudi in die Tasche, zog einen nagelneuen Dollarschein hervor und klatschte ihn mir in die Hand. «Siehst du das Restaurant da?», fragte er und zeigte auf einen Imbiss in der Bahnhofshalle. «Geh rein und bestell dir die größte Portion, die du dir reinstopfen kannst. Ich warte solange hier draußen.»
    «Und was ist mit Ihnen? Haben Sie was gegen’s Essen?»
    «Zerbrich dir nicht meinen Kopf», erwiderte Meister Yehudi. «Mein Magen kann für sich selbst sorgen.» Als ich grade losgehen wollte, fügte er hinzu: «Noch ein Wort, du Pimpf. Falls du vorhast wegzulaufen, tu es jetzt. Um den Dollar mach dir keine Gedanken. Den kannst du behalten, als Entschädigung.»
    Ich ging also allein in die Gaststätte; diese Abschiedsworte hatten mich ein bisschen beruhigt. Wenn er irgendwelche finsteren Absichten hatte, warum bot er mir dann eine Chance zur Flucht? Ich setzte mich an die Theke und bestellte ein Komplettmenü Spezial und eine Flasche Sarsaparilla. Kaum einen Wimpernschlag später schob der Kellner einen Berg Corned Beef und Kohl vor mich hin. Es war die größte Mahlzeit, die ich je gesehen hatte, so groß wie der Sportsman’s Park in Saint Louis, und ich verschlang sie bis zum letzten Bissen, und dazu noch zwei Scheiben Brot und eine zweite Flasche Sarsaparilla. Ein nie erlebtes Wohlbehagen durchströmte mich an dieser schmierigen Imbisstheke. Nachdem ich mir den Bauch vollgeschlagen hatte, fühlte ich mich unbesiegbar, als ob mir nichts mehr was anhaben könnte. Gekrönt wurde dieses Gefühl, als ich, um die Rechnung zu begleichen, den Dollarschein aus der Tasche zog. Das Ganze kostete bloß fünfundvierzig Cents, und selbst nachdem ich dem Kellner fünf Cents Trinkgeld gegeben hatte, blieb noch ein halber Dollar für mich übrig. Das klingt nicht viel für heutige Verhältnisse, aber damals waren zwei Quarter ein Vermögen für mich. Das ist die Chance abzuhauen, sagte ich mir und sah mich, während ich vom Barhocker stieg, rasch in dem Laden um. Wenn ich mich durch den Nebeneingang verdrücke, kann der Mann in Schwarz
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