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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo
Autoren: Paul Auster
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ich sehen konnte, lag ihm Letzteres weit mehr am Herzen. Wie der Meister selbst einmal eines Morgens kurz nach meiner Ankunft sagte: «Er war noch viel schlimmer dran als du, Rotznase. Als ich ihn vor zwölf Jahren aufgelesen habe, ist er in Lumpen auf einem Baumwollfeld in Georgia herumgekrochen. Er hatte seit zwei Tagen nichts gegessen, und seine Mama, selbst noch ein Kind, lag tot, an Tbc gestorben, in ihrer Hütte, vierzehn Meilen die Straße runter. So weit war der Junge von zu Hause weg. Er phantasierte schon vor Hunger, und wenn ich ihn nicht zufällig gefunden hätte, wäre sein Schicksal besiegelt gewesen. Sein Körper mag verunstaltet sein, aber dafür funktioniert sein Hirn umso prächtiger, und auf den meisten Gebieten hat er mich längst überholt. In drei Jahren will ich ihn aufs College schicken. Dort kann er seine Studien fortsetzen, und wenn er seinen Abschluss hat und in die Welt hinausgeht, wird er ein Führer seines Volkes werden, ein leuchtendes Beispiel für alle unterdrückten Schwarzen in diesem brutalen Land der Heuchler.» Ich verstand kein Wort von dem, was der Meister da sagte, aber die Liebe, mit der er sprach, brannte sich mir unauslöschlich ein. Bei all meiner Beschränktheit, so viel verstand ich nun doch: Er liebte Äsop wie seinen eigenen Sohn, und ich war ein Depp, ein räudiges Stück Vieh, das man anspuckte und im Regen stehen ließ.
    Dass Mutter Sue ebenso unwissend, ungebildet und arbeitsscheu war wie ich, hätte uns einander näherbringen können, tat es aber nicht. Zwar begegnete sie mir nicht mit offener Feindschaft, doch war mir ihre Gegenwart unheimlich, und ich brauchte fast noch länger, mich auf sie und ihre Schrullen einzustellen, als mich an die beiden anderen zu gewöhnen – die ebenfalls kaum als normal bezeichnet werden konnten. Auch wenn sie nicht in Decken gehüllt war und keinen Hut auf dem Kopf trug, fiel es mir schwer, sie einem bestimmten Geschlecht zuzuordnen. Das beunruhigte mich irgendwie, und selbst, nachdem ich sie durchs Schlüsselloch ihrer Tür mal nackt gesehen und mich mit eigenen Augen davon überzeugt hatte, dass sie tatsächlich mit zwei Brüsten ausgestattet war und ihr kein Pimmel aus dem Schamhaar baumelte, war ich mir noch immer nicht ganz sicher. Ihre Hände waren hart wie Männerhände, sie hatte breite Schultern und wahre Muskelpakete an den Oberarmen, und wenn sie nicht grade, was selten vorkam, ihr schönes Lächeln aufblitzen ließ, war ihre Miene so unnahbar und ausdruckslos wie ein Stück Holz. Genauer gesagt: Was mich eigentlich verunsicherte, war vielleicht eher ihr Schweigen, ihr Blick, der durch mich hindurchzugehen schien, als sei ich gar nicht vorhanden. Da ich in der Hackordnung des Haushalts unmittelbar unter ihr stand, hatte ich mit Mutter Sue mehr zu tun als mit allen anderen. Von ihr bekam ich meine Hausarbeiten zugeteilt, von ihr wurde kontrolliert, ob ich mir vor dem Schlafengehen das Gesicht gewaschen und die Zähne geputzt hatte; aber in all den vielen Stunden, die ich in ihrer Gesellschaft verbrachte, fühlte ich mich trotzdem einsamer, als wenn ich wirklich allein gewesen wäre. In ihrer Gegenwart hatte ich immer ein hohles Gefühl in der Magengrube, als ob mich ihre Nähe schrumpfen ließ. Es spielte keine Rolle, wie ich mich benahm. Ich konnte rumhüpfen oder stillstehen, ich konnte mir die Lunge aus dem Hals schreien oder den Mund halten – die Folgen waren immer die gleichen. Mutter Sue war eine Wand, und sobald ich mich dieser Wand näherte, wurde ich in eine Rauchwolke verwandelt, ein Häuflein Asche, das der Wind zerstreut.
    Der Einzige, der richtig nett zu mir war, war Äsop, doch gegen den war ich voreingenommen, da mochte er tun und sagen, was er wollte, auf mich hatte es keine Wirkung. Ich konnte nicht anders. Es lag mir im Blut, Verachtung für ihn zu empfinden, und angesichts der Tatsache, dass er das hässlichste Exemplar seiner Gattung war, das meine leidgeprüften Augen je erblickt hatten, kam es mir geradezu grotesk vor, mit ihm unter einem Dach leben zu müssen. Es verstieß gegen jedes Gesetz der Natur, es war ein Angriff auf alles Heilige und Anständige, und das konnte ich mir einfach nicht durchgehen lassen. Dazu kam erstens, dass er redete wie kein anderer farbiger Junge auf der ganzen Welt – eher wie ein englischer Lord als wie ein Amerikaner –, und zweitens, dass er der Liebling des Meisters war, und wegen alldem stieg schon die große Wut in mir auf, wenn ich bloß an ihn dachte.
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