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Grolar (German Edition)

Grolar (German Edition)

Titel: Grolar (German Edition)
Autoren: Thorsten Nesch
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    Mittwoch
     
     
     
     
     
Der Wind drehte, und der Grolar hielt inne. Außer dem nassen Holz im Regen roch er etwas anderes, einen Geruch, den er seit einigen Tagen und Nächten häufiger witterte, der ihn neugierig machte.
    Langsam richtete er sich auf, verlagerte sein gesamtes Gewicht auf die Hinterbeine, die so breit waren wie junge Baumstämme. Seine Gelenke schmerzten, nicht vom Alter, sondern aufgrund des langen Marsches, den er hinter sich hatte. Getrieben vom Hunger war er seinem Geruchssinn gefolgt. Diesem Instinkt hatte er sein Leben zu verdanken. Zuverlässig führte ihn seine Nase von Tier zu Tier, immer weiter weg von dem Kannibalismus an seinesgleichen, weg vom Schlachten und Fressen fremder Bärenkinder und ihrer dürren Mütter.
    Hoch oben zwischen den Zweigen zweier Fichten blähte er seine Nüstern auf und sog tief das klare Aroma eines möglichen Opfers ein, während eine heiße Atemwolke seine Schnauze umspielte und dicke Tropfen Regenwasser auf seiner Nase auseinanderplatzten. Die anderen Gerüche konnte er ausblenden: die wilden Pilze, die Blaubeeren und die Himbeeren.
    Dieser eine Duft drängte sich ihm geradezu auf, dieser Geruch störte ihn nicht mehr, weil er ihn nicht kannte, weil er ihn mochte. Augenblicklich troff sein Speichel in langen Fäden herab auf den Boden, vermischt mit diesem ewigen Regen.
    Er spitzte die Ohren, während sich der Blick seiner pechschwarzen Augen im Dickicht aus Bäumen und Büschen verlor. Besonders weit und gut konnte er nicht gucken, er verließ sich zunächst auf seinen Geruchssinn, dann auf seine Ohren.
    Es könnten auch zwei Opfer sein, ja, er hörte sie durch all das Geplätscher und die Vogelstimmen, auch wenn diese im Regen seltener und leiser waren. Unmittelbar um ihn herum waren sie immer still, hielten alle Vögel ihren Atem an, das war er gewohnt.
    Behäbig ließ er sich auf seine Vordertatzen nieder. Unter den wulstigen Sohlen, bedeckt vom dichten Fell, brachen leise die toten Äste, die der letzte Sturm von den Tannen und Fichten gerissen hatte – mehr ein dumpfes Knuspern, als brächen dünne Knochen zwischen seinen geschlossenen Kiefern.
    Dann setzte er sich in Bewegung, deutlich ruhiger, weil er ein Ziel vor Augen hatte. Und er hoffte, der Wind möge sich nicht drehen, denn dadurch könnte er die Witterung verlieren, oder sie könnten ihn leichter hören. Zu früh wäre das nicht gut, im letzten Augenblick war es egal; da lähmte oftmals das schiere Entsetzen seine Beute.
     
     
»Lass uns schätzen!«, rief Barry durch den Regen, »ich will nach Hause bei dem Scheißwetter.«
    Er stand breitbeinig im tiefen Unterholz und hielt einen rotweißen Fluchtstab senkrecht neben sich, damit sein Kollege diesen von der Lichtung aus anpeilen konnte. Neds Kopf war hinter dem Tachymeter verschwunden. Auf diese Entfernung sah Barry in dem starken Regen nur die Neonstreifen seiner Sicherheitsweste und die obere Hälfte seines gelben Helms.
    Die beiden waren seit fast zwanzig Jahren ein Team. Als Landvermesser arbeiteten sie im Auftrag der Regierung von British Columbia, und Ned hatte Barry seinerzeit ausgebildet. Die beiden mochten Aufträge wie diesen, wo sie für ein oder zwei Wochen in der Wildnis waren. In diesem Fall bestand ihre Aufgabe darin, einen zukünftigen Bauabschnitt der neuen Erdgaspipeline südlich von Whitehorse zu vermessen.
    »Wir sind eh klatschnass«, antwortete Ned, für den diese Wetterbedingungen einfach dazugehörten, vielleicht weil er in Vancouver aufgewachsen war. Die Stadt war berühmt für ihren Niederschlag.
    Barry stammte aus Merritt, einem Ort im Inneren der Provinz, wo es weitaus weniger regnete. So etwas konnte prägen. Verstehen konnte Ned diese Einstellung nicht. Als Landvermesser eine Entfernung schätzen, das konnte er nicht. Ausbilder bleibt Ausbilder, samt Vorbildrolle.
    Einmal im Monat kam Barry mit dieser Idee, einfach früher aufzuhören. Als wäre das ein Spiel zwischen ihnen. Vielleicht wollte er ihn auch foppen, ausschließen konnte er das nicht.
    Das war der einzige Haken an seinem Kollegen, wenn man das so nennen wollte, ansonsten verstanden sie sich prächtig.
    »Wir sind aber eher wieder trocken«, brachte Barry ein weiteres Argument an.
    Dies war die letzte Messung für heute. Danach würden sie zurück in das Motel in Whitehorse fahren, dort sofort nacheinander
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