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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo
Autoren: Paul Auster
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war mir doch lieber als die der Leute. Ich konnte mich kaum entscheiden, was mir mehr zuwider war, und brachte meine Abneigungen täglich in eine andere Reihenfolge. An Mutter Sue und Äsop ärgerten mich ihre ständigen Sticheleien, aber meinen größten Zorn und Unwillen erregte schließlich doch der Meister. Er war der Schuft, der mich dort hingelockt hatte, er trug die Hauptschuld an meiner beschissenen Lage. Am meisten fuchste mich sein Sarkasmus, die Seitenhiebe und Beleidigungen, mit denen er mich ständig überschüttete, die ewigen Schikanen und Piesackereien, die nur dazu dienten, mir meine Nichtsnutzigkeit zu beweisen. Während er zu den beiden anderen stets höflich war, ein Muster von Anstand, ließ er mir gegenüber selten die Gelegenheit aus, irgendeine Gemeinheit von sich zu geben. Das fing am allerersten Morgen an und ging so weiter. Ich merkte bald, dass er keinen Deut besser war als Onkel Slim. Sicher, er hat mich nicht verprügelt wie Slim, aber seine Worte glichen Fausthieben und taten nicht weniger weh als jede Kopfnuss.
    «Nun erzähl mir mal, du zartbesaiteter Schlingel», sagte er an diesem ersten Morgen zu mir, «was du so alles draufhast.»
    «Hä?», gab ich zurück. «Wie meinen?»
    «Ich rede von der Schule, Dummkopf. Hast du je deinen Fuß in ein Klassenzimmer gesetzt – und falls ja, was hast du da gelernt?»
    «Ich brauch doch zum Lernen die Schule nicht. Da kann ich was Besseres mit meiner Zeit anfangen.»
    «Ausgezeichnet. Du sprichst wie ein echter Gelehrter. Aber drück dich etwas genauer aus. Was ist mit dem Alphabet? Kannst du die Buchstaben des Alphabets schreiben oder nicht?»
    «Ein paar. Die, die mir nützlich sind. Die anderen interessieren mich nicht. Die sind mir nur lästig, also kümmere ich mich nicht drum.»
    «Und welche sind dir nützlich?»
    «Also, mal sehen. Das A , das gefällt mir, und das W . Dann, wie heißt das Ding noch mal, das L , und das E , und das R , und dann dieser eine, der aussieht wie ein Kreuz. Das T . Wie in T-Bone-Steak. Das sind meine Freunde, und der Rest kann von mir aus in der Hölle braten.»
    «Du kannst also deinen Namen schreiben.»
    «Sie haben’s erfasst, Chef. Ich kann meinen Namen schreiben, ich kann zählen, so weit Sie wollen, und ich weiß, dass die Sonne ein Stern am Himmel ist. Außerdem weiß ich, dass Bücher was für Weiber und Waschlappen sind, und falls Sie vorhaben, mir irgendwas aus Büchern beizubringen, können wir die ganze Sache gleich abblasen.»
    «Keine Bange, Kleiner. Was du mir da eben gesagt hast, ist Musik in meinen Ohren. Je dümmer du bist, desto besser für uns beide. Denn so habe ich weniger rückgängig zu machen, und das spart uns eine Menge Zeit.»
    «Und was ist mit dem Flugunterricht? Wann fangen wir damit an?»
    «Wir haben schon damit angefangen. Von jetzt an ist alles, was wir tun, Teil deiner Ausbildung. Das wird dir nicht immer einleuchten, also schreib’s dir hinter die Ohren. Vergiss es nicht, dann wirst du auch durchhalten können, wenn’s mal schwierig wird. Wir haben einen weiten Weg vor uns, Junge, und als Erstes werde ich deinen Willen brechen müssen. Ich wünschte, es ginge auch anders, aber da ist nichts zu machen. Freilich dürfte die Aufgabe nicht allzu schwierig sein, wenn man bedenkt, aus was für einem Sumpf ich dich gezogen habe.»
    Drum durfte ich nun täglich im Stall Scheiße schippen und mir die Ohren abfrieren, während die anderen warm und gemütlich im Haus hockten. Mutter Sue kümmerte sich ums Kochen und sonstige Hausarbeiten, Äsop lümmelte sich lesend auf dem Sofa, und Meister Yehudi tat gar nichts. Seine Hauptbeschäftigung schien es zu sein, von morgens bis abends auf einem unbequemen Holzstuhl zu hocken und aus dem Fenster zu schauen. Von seinen Gesprächen mit Äsop abgesehen, war das das Einzige, was ich ihn bis zum Frühjahr habe tun sehen. Manchmal hörte ich den beiden bei ihren Unterhaltungen zu, wurde aber nicht schlau daraus. Sie benutzten so viele schwierige Wörter, dass es sich wie eine Geheimsprache anhörte. Später, als ich mich ein bisschen besser eingelebt hatte, erfuhr ich, dass sie studierten. Meister Yehudi hatte es auf sich genommen, Äsop eine gründliche Allgemeinbildung zu verschaffen, und die Bücher, die sie lasen, behandelten alle möglichen Themen: Geschichte, Naturwissenschaften, Literatur, Mathematik, Latein, Französisch und so weiter. Mir wollte er das Fliegen beibringen, aber aus Äsop wollte er einen Gelehrten machen, und soviel
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