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Der Tempelmord

Der Tempelmord

Titel: Der Tempelmord
Autoren: Bernhard Hennen
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1. KAPITEL

     
    D er infernalische Lärm des Festzuges übertönte sogar das allgegenwärtige Geschrei der Möwen, die, wie von einem Zauber angezogen, Tag und Nacht um den riesigen Tempel kreisten. Dabei hatte die Spitze der Kolonne noch nicht einmal das Gelände der kleinen Tempelstadt rund um das Artemision erreicht. Philippos blickte kurz an sich hinunter und zupfte einige Falten seiner Toga zurecht. Er war der einzige im Hofstaat des Ptolemaios, der das Ehrengewand eines römischen Bürgers trug.
    Wie die anderen Vertrauten des geflohenen Königs hatte er sich auf den Stufen des Tempels eingefunden, um dem Festzug zu Ehren der Göttin Artemis beizuwohnen. Mit ihren fremdartig geschnittenen Leinengewändern und ihrem kostbaren Schmuck hätten die Ägypter überall in der zivilisierten Welt sicherlich Aufsehen erregt, doch hier, in Ephesos, war das nichts Besonderes. Zum Fest der Göttin hatten sich Gäste aus allen Teilen der Welt eingefunden. Makedonische Söldner mit kantigen Gesichtern, Parther in bunten Seidengewändern, die kostbarer als Gold waren, Kaufleute aus Tyros, denen die geölten und parfümierten Bärte bis weit auf die Brust hinabreichten, blonde Galater mit beunruhigend blauen Augen, so wie man sie sonst nur bei den Barbaren aus Gallien und Germanien antraf, ja, sogar einige Römer in schlichten Togae waren Philippos in der Menge aufgefallen.
    Ein paar Ägypter, und sei es selbst der Hofstaat eines geflohenen Königs, erregten in diesem Völkergemisch kein Aufsehen. Philippos stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser den Beginn der Prozession sehen zu können, die keine hundert Schritt mehr entfernt war. Unmittelbar vor dem Arzt stand Potheinos, der erste Eunuch und engste Berater des Königs.
    Mit seinem schlanken, hageren Körper verstellte er ihm die Sicht. Wie die meisten Beamten des Hofes trug auch Potheinos eine Perücke aus schwarzem Pferdehaar, und Philippos konnte sehen, wie sich glänzender Schweiß in den Falten am Hals des Beschnittenen sammelte. Der Grieche grinste. Wahrscheinlich betete der Kerl gerade zu irgendeinem dieser tierköpfigen ägyptischen Götter um Hilfe, damit ihm der Schweiß nicht die Schminke verwischte. Daran, daß sich bei den Ägyptern auch die Männer schminkten, würde er sich niemals gewöhnen.
    Mit einem leichten Stoß in die Rippen riß ihn die Isispriesterin neben ihm aus seinen Gedanken. Sie zeigte auf die Spitze der Prozession und versuchte, ihm etwas zu sagen. Philippos sah, wie sich ihre Lippen bewegten, doch in dem infernalischen Lärm konnte er Samu nicht verstehen. Einen Moment lang verweilte sein Blick auf dem Antlitz der schönen Isispriesterin.
    Auch sie war so stark geschminkt, daß ihr Gesicht nicht menschlich, sondern wie eine starre Maske aussah. Zwei breite, schwarze Striche rahmten ihre Augen und zogen sich bis zu ihren Schläfen. Die Augenlider hingegen hatte sie sich mit einer körnigen, blauen Paste bestrichen. Ihre
    Wangen waren mit rotem Ocker eingerieben, und ein noch tieferes Rot glänzte auf ihren Lippen. Philippos wußte, daß sie mehr als eine Stunde brauchte, um diese Maske anzulegen und ihr Haar mit duftenden Ölen zu behandeln. Der Erfolg dieser Strapaze war unbestreitbar. Samu wirkte zugleich anziehend und unnahbar, sinnlich und kalt. Daß sie obendrein auch noch intelligent war und die Schriften des Hippokrates mindestens ebenso gut kannte wie er selbst, ließ die Priesterin dem Arzt vollends unheimlich werden. Es gehörte sich einfach nicht, daß Frauen mehr wußten als Männer! Jedenfalls nicht in Bereichen wie Philosophie und Medizin.
    Ein wenig mürrisch wandte sich Philippos von ihr ab und betrachtete wieder die Prozession. Die erste Gruppe, das Priesterkollegium der Kureten, war schon fast an ihnen vorbeigezogen. Die Männer trugen tönerne Daimonenmasken und dunkle Gewänder. Die meisten von ihnen waren mit Speeren und Schilden bewaffnet. Wie in Ekstase hieben sie mit den Waffen auf ihre bronzebeschlagenen Schmuckschilde. Andere schlugen Handtrommeln oder bliesen auf kunstvoll gewundenen Fanfaren. Mit ihrem Lärmen hatten die Kureten, die in alten Legenden ein Geschlecht von Bergdaimonen waren, einst die zornige Hera von der Geburt der Artemis abgelenkt. Sie hatten ihr Schicksal mit der Göttin verbunden, und so war es noch heute, denn die Priester des Kuretenkollegiums hatten sich vollkommen den Priesterinnen der Artemis unterworfen. Noch vor Sonnenaufgang hatten sie an diesem Morgen mit ihrem Lärmen den Festtag
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