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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo
Autoren: Paul Auster
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Womit er nicht Abscheu bekundete, sondern Kummer, ein gewaltiges Schaudern aus den Tiefen seiner Seele. Dann krümmte er mit äußerster Bedachtsamkeit und Ruhe den Zeigefinger seiner Rechten zu einem starren Haken und platzierte die Spitze dieses Hakens unter mein Kinn, genau an die Stelle, wo Fleisch und Knochen zusammentreffen. Und dann begann er zu drücken, und plötzlich schoss mir ein entsetzlicher Schmerz durch den Nacken in den Schädel. So was von Schmerz hatte ich noch nicht erlebt. Ich wollte schreien, aber meine Kehle war wie zugeschnürt, so dass mir bloß ein ächzendes Würgen entfuhr. Der Meister drückte weiter, und gleich darauf hob ich mit den Füßen vom Boden ab. Ich schwebte hoch, stieg in die Luft wie eine Feder, was den Meister offenbar nicht die geringste Mühe kostete, als sei ich für ihn nicht schwerer als ein Marienkäfer. Schließlich waren unsere Gesichter auf gleicher Höhe, und ich sah ihm direkt in die Augen.
    «So wird bei uns nicht geredet, Junge», sagte er. «Alle Menschen sind Brüder, und in dieser Familie wird jeder mit Respekt behandelt. Das ist Gesetz. Damit wirst du dich abfinden müssen. Gesetz ist Gesetz, und wer dagegen verstößt, wird zur Schnecke gemacht und kann sich den Rest seiner Tage im Dreck wälzen.»

Sie gaben mir Essen, Kleidung und ein eigenes Zimmer. Ich bekam weder Schläge noch Prügel, weder Fußtritte noch Ohrfeigen, doch so erträglich meine Lage sein mochte, ich hatte mich noch nie so niedergeschlagen gefühlt, so voller Bitterkeit und aufgestauter Wut. In den ersten sechs Monaten dachte ich bloß an Flucht. Ich war ein Stadtkind, mit Jazz im Blut aufgewachsen, ein Straßenjunge, der immer nur an sich selbst gedacht hatte; das Gewühl der Menge, das Quietschen der Straßenbahnen, der Puls der Neonlichter, der Gestank von geschmuggeltem Whiskey in den Rinnsteinen – das war mein Lebenselixier. Ich war ein Schlingel, dem der Boogie in den Beinen steckte, ein kleiner Scatsänger mit flinker Zunge und hundert Ideen, und da saß ich nun am Ende der Welt und lebte unter einem Himmel, der nichts anderes zu bieten hatte als Wetter – und das war meistens schlecht.
    Meister Yehudis Grundbesitz umfasste fünfzehn Hektar unbebautes Land, ein zweigeschossiges Farmhaus, einen Hühnerstall, einen Schweinekoben und eine Scheune. Er hatte ein Dutzend Hühner, zwei Kühe, das graue Pferd und sechs oder sieben Schweine. Es gab weder Strom noch fließend Wasser, weder Telephon noch Radio, weder ein Grammophon noch sonst was. Einzige Quelle der Unterhaltung war ein Klavier im Wohnzimmer, aber bloß Äsop konnte darauf spielen, und der stümperte selbst bei den simpelsten Stücken einen solchen Murks zusammen, dass ich jedes Mal aus dem Zimmer ging, sobald er sich anschickte, in die Tasten zu greifen. Das Haus war einfach grauenhaft, die Welthauptstadt der Langeweile, und schon nach einem Tag hatte ich die Nase gestrichen voll davon. Nicht mal mit Baseball kannten sich diese Leute aus, ich hatte keinen, mit dem ich über meine geliebten Cardinals reden konnte, was damals so ziemlich das einzige Thema war, wofür ich mich interessierte. Ich kam mir vor, als sei ich durch ein Zeitloch in die Steinzeit gestolpert, in ein Land, durch das noch die Saurier streiften. Mutter Sue erzählte, Meister Yehudi habe die Farm ungefähr sieben Jahre zuvor bei einer Wette von irgendeinem Kerl in Chicago gewonnen. Muss ja ’ne tolle Wette gewesen sein, sagte ich. Der Verlierer entpuppt sich als Gewinner, und der Trottel von Gewinner vermodert für den Rest seines Lebens im hintersten Kaff von Amerika.
    Ich war ein dummer kleiner Hitzkopf damals, das will ich gern zugeben, aber ich denke nicht dran, mich zu rechtfertigen. Ich war eben, wie ich war, ein Produkt der Menschen und Orte, von denen ich herkam, und es hat keinen Sinn, jetzt darüber zu lamentieren. Am meisten beeindruckt mich an diesen ersten Monaten, wie geduldig die Leute waren, wie gut sie mich zu verstehen und sich mit meinen Mätzchen abzufinden schienen. Viermal bin ich in diesem ersten Winter weggelaufen, einmal bis nach Wichita; und jedes Mal haben sie mich zurückgeholt, ohne Fragen zu stellen. Ich war kaum mehr als ein Nichts – ein paar Moleküle weniger, und ich wäre überhaupt kein Mensch gewesen, und da der Meister mir allenfalls die Seele eines Tieres zugestand, fing er auch dort mit mir an: bei den Tieren im Stall.
    Sosehr ich es verabscheute, mich um Hühner und Schweine zu kümmern, ihre Gesellschaft
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