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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo
Autoren: Paul Auster
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    I
    Mit zwölf Jahren bin ich zum ersten Mal übers Wasser gegangen. Das hat mir der Schwarzgekleidete beigebracht, und ich will nicht so tun, als hätte ich diesen Trick über Nacht gelernt. Als Meister Yehudi mich auflas, war ich neun, ein Waisenjunge, der auf den Straßen von Saint Louis betteln ging, und bevor er mich öffentlich auftreten ließ, hat er ganze drei Jahre mit mir gearbeitet. Das war 1927, das Jahr von Babe Ruth und Charles Lindbergh, das Jahr, in dem sich endgültig die Nacht über die Welt gesenkt hat. Ich habe damit weitergemacht bis ein paar Tage vor dem Schwarzen Freitag, und was ich geleistet habe, war phantastischer als alles, was sich diese beiden Herrschaften je hätten träumen lassen. Ich habe getan, was kein Amerikaner vor mir geschafft hat und seitdem auch niemand mehr.
    Auf mich ist Meister Yehudi verfallen, weil ich der kleinste war, der schmutzigste, der elendste. «Du bist nicht besser als ein Tier», meinte er, «ein menschliches Nichts.» Das war der erste Satz, den er zu mir sagte, und seit dem Abend sind achtundsechzig Jahre vergangen, aber die Worte aus dem Mund des Meisters klingen mir noch heute im Ohr. «Du bist nicht besser als ein Tier. Wenn du bleibst, wo du bist, wirst du das Ende des Winters nicht erleben. Wenn du aber mit mir kommst, bringe ich dir das Fliegen bei.»
    «Kein Mensch kann fliegen, Mister», sagte ich. «Die Vögel, die machen das. Seh ich vielleicht wie ’n Vogel aus?»
    «Du weißt nichts», sagte Meister Yehudi. «Du weißt nichts, denn du bist nichts. Wenn ich dir bis zu deinem dreizehnten Geburtstag nicht das Fliegen beigebracht habe, kannst du mir mit einem Beil den Kopf abhacken. Das gebe ich dir gern schriftlich, wenn du willst. Sollte ich mein Versprechen nicht einlösen, liegt mein Schicksal in deinen Händen.»
    Es war ein Samstagabend Anfang November, und wir standen vor dem Paradise Café, einem beliebten Schnapslokal in der Stadtmitte mit einer farbigen Jazzband und Zigarettenmädchen in durchsichtigen Kleidern. Dort trieb ich mich an den Wochenenden oft herum und schnorrte, machte Botengänge und besorgte Taxis für die feinen Pinkel. Anfangs hielt ich Meister Yehudi bloß für irgendeinen Betrunkenen, einen reichen Säufer, der in schwarzem Smoking und Seidenzylinder durch die Nacht torkelte. Er hatte einen seltsamen Akzent, drum nahm ich an, er sei nicht aus der Stadt; weiter reichte meine Phantasie nicht. Betrunkene reden dummes Zeug, und die Sache mit dem Fliegen war auch nicht dümmer als das meiste andere.
    «Wenn man sich zu hoch in die Luft erhebt», sagte ich, «bricht man sich beim Runterfallen den Hals.»
    «Über Techniken reden wir später», sagte der Meister. «Die Kunst ist nicht einfach zu erlernen, aber wenn du mir zuhörst und meinen Anweisungen folgst, werden wir beide es zu Millionären bringen.»
    «Sie sind doch schon Millionär», sagte ich. «Wozu brauchen Sie mich da noch?»
    «Weil ich, du mieser kleiner Gangster, kaum noch zwei Münzen in der Tasche habe. In deinen Augen bin ich vielleicht ein Großkapitalist, aber das kommt daher, dass du bloß Stroh im Kopf hast. Hör mir genau zu. Ich biete dir die Chance deines Lebens, aber du bekommst sie nur einmal. Ich habe einen Platz im Blue Bird Special gebucht, der geht um sechs Uhr dreißig, und wenn du dein Gerippe nicht in diesen Zug beförderst, siehst du mich jetzt zum letzten Mal.»
    «Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet», sagte ich.
    «Weil du die Antwort auf meine Gebete bist, mein Sohn. Deshalb will ich dich. Weil du die Gabe besitzt.»
    «Gabe? Ich hab keine Gabe. Und wenn ich doch eine hätte, was könnten Sie schon drüber wissen, Münchhausen? Sie reden ja erst seit einer Minute mit mir.»
    «Wieder falsch», sagte Meister Yehudi. «Ich beobachte dich seit einer Woche. Und falls du dir einbildest, deine Tante und dein Onkel wären traurig, wenn du weg wärst, dann weißt du nicht, mit wem du in den letzten vier Jahren zusammengelebt hast.»
    «Meine Tante, mein Onkel?», sagte ich, und plötzlich ging mir auf, dass dieser Mann kein samstagabendlicher Betrunkener war. Er war was viel Schlimmeres: ein Beamter, der Schulschwänzern nachschnüffelte, oder ein Polizist, also steckte ich bis zu den Knien in der Scheiße.
    «Dein Onkel Slim ist mir vielleicht einer», fuhr der Meister fort; jetzt, da er mein Interesse geweckt hatte, ließ er sich Zeit. «Ich hätte nie gedacht, dass ein Amerikaner dermaßen dumm sein könnte. Er
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