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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo
Autoren: Paul Auster
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warten, bis er schwarz wird. Aber ich tat es nicht, und damit war über mein ganzes Leben entschieden. Ich bin zu dem wartenden Meister zurückgegangen, weil er versprochen hatte, mich zum Millionär zu machen. Diese fünfzig Cent gaben den Ausschlag: Vielleicht lohnte es sich ja, abzuwarten, ob er seinen großen Worten Taten folgen lassen würde.
    Wir bestiegen einen anderen Zug und gegen Ende der Reise einen dritten, der uns um sieben Uhr abends nach Cibola brachte. So schweigsam Meister Yehudi den ganzen Vormittag gewesen war, so redselig war er für den Rest des Tages. Ich lernte bereits, dass man über sein Tun oder Lassen lieber nicht spekulierte. Kaum glaubte man ihn festgenagelt zu haben, machte er kehrt und tat genau das Gegenteil von dem, was man erwartet hatte.
    «Du kannst mich Meister Yehudi nennen», sagte er, womit er mir zum ersten Mal seinen Namen nannte. «Oder auch einfach Meister, wenn du willst. Aber niemals, unter keinen Umständen, darfst du Yehudi zu mir sagen. Ist das klar?»
    «Ist das Ihr richtiger Name», sagte ich, «oder haben Sie sich diesen Spitznamen selber zugelegt?»
    «Meinen richtigen Namen brauchst du nicht zu wissen. Meister Yehudi reicht vollkommen.»
    «Also, ich heiße Walter. Walter Claireborne Rawley. Aber Sie können Walt zu mir sagen.»
    «Das muss du schon mir überlassen. Wenn ich dich Wurm nennen will, dann tue ich das. Wenn ich dich Schwein nennen will, dann tue ich das. Verstanden?»
    «Mann, ich kapier überhaupt nicht, wovon Sie reden.»
    «Und ich dulde keine Lügen oder Falschheiten. Keine Ausreden, keine Klagen, keine Widerrede. Wenn du das mal kapiert hast, wirst du der glücklichste Junge auf der ganzen Welt sein.»
    «Klar. Und wenn ein Beinloser Beine hätte, könnte er im Stehen pinkeln.»
    «Ich kenne deine Geschichte, Kleiner. Du brauchst dir also keine Märchen für mich auszudenken. Ich weiß, dass dein Pa 1917 bei einem Gasangriff umgekommen ist, und ich weiß auch über deine Ma Bescheid: wie sie damals in East Saint Louis für einen Dollar die Nummer die Beine breitgemacht hat, und die Geschichte vor viereinhalb Jahren, als ein durchgedrehter Bulle ihr mit seinem Revolver das Gesicht weggepustet hat. Glaub nicht, ich hätte kein Mitleid mit dir, Kleiner, aber du darfst dich nicht vor der Wahrheit drücken, solange du es mit mir zu tun hast, sonst wird nie was aus dir.»
    «Okay, Mr. Schlauberger. Wenn Sie so gut unterrichtet sind, warum halten Sie dann nicht mal die Luft an? Wozu erzählen Sie mir Sachen, die Sie sowieso längst wissen?»
    «Weil du mir immer noch kein Wort glaubst. Du denkst, was ich dir vom Fliegen erzählt habe, ist alles leeres Stroh. Du wirst hart arbeiten, Walt, härter als du je gearbeitet hast, und du wirst mir fast täglich weglaufen wollen, aber wenn du mir vertraust und dranbleibst, kannst du in ein paar Jahren fliegen. Ich schwör’s dir. Du wirst dich vom Boden erheben und wie ein Vogel durch die Luft fliegen.»
    «Ich bin aus Missouri, schon vergessen? Wir sind ziemlich misstrauische Leute.»
    «Aber das hier ist nicht Missouri, Freundchen. Sondern Kansas. Und ein platteres, trostloseres Land hast du noch nicht gesehen. Als Coronado und seine Leute 1540 auf der Suche nach den Goldstädten hier durchmarschiert sind, haben sie sich so verirrt, dass die Hälfte von ihnen wahnsinnig geworden ist. Hier gibt es nichts, woran man sich orientieren kann. Keine Berge, keine Bäume, keine Unebenheiten. Die Gegend hier ist platt wie ein Pfannkuchen, und wenn du erst mal eine Zeitlang hier gelebt hast, wirst du begreifen, dass man sich hier nur nach oben bewegen kann – dass der Himmel hier dein einziger Freund ist.»
    Als wir in den Bahnhof einfuhren, war es dunkel, drum konnte ich des Meisters Beschreibung meiner neuen Heimat nicht überprüfen. Soweit ich sah, unterschied sich der Ort in nichts von dem, was man von irgendeiner Kleinstadt erwarten konnte. Ein bisschen kälter vielleicht und mehr als ein bisschen dunkler als das, was ich gewöhnt war, aber da ich noch nie in einer Kleinstadt gewesen war, konnte ich auch nicht wissen, was ich erwarten sollte. Alles war neu für mich: Jeder Geruch war mir fremd, jeder Stern am Himmel schien mir unvertraut. Genauso gut hätte mir einer sagen können, ich sei soeben im Land Oz angekommen.
    Wir gingen durch das Bahnhofsgebäude, blieben draußen vor der Tür kurz stehen und inspizierten das dunkle Dorf. Es war erst sieben Uhr abends, aber der ganze Ort hatte schon dichtgemacht; bis
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