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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo
Autoren: Paul Auster
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Atem verschlug, als er zum ersten Mal ins Haus kam –, lasse ich ihm auch weiter alles durchgehen. Ich kann nicht anders. Der Junge hat den Teufel im Leib. Er ist frech und unhöflich und nicht zu bändigen, aber das Feuer des Lebens lodert in ihm, und es tut mir gut, zu beobachten, wie er sich kopfüber in einen Strudel von Schwierigkeiten stürzt. Wenn ich Yusef sehe, weiß ich, was der Meister in mir gesehen hat, was er meinte, als er mir sagte, dass ich die Gabe hätte. Dieser Junge besitzt die Gabe auch. Wenn ich je den Mut aufbringen könnte, mit seiner Mutter zu reden, würde ich ihn sofort unter meine Fittiche nehmen. In drei Jahren würde ich ihn zum nächsten Wunderknaben machen. Er würde dort anfangen, wo ich aufgehört habe, und binnen kurzem würde er es weiter bringen als jeder andere vor ihm. Gott, dafür würde es sich lohnen zu leben, stimmt’s? Es würde die ganze beschissene Welt noch mal aus den Angeln heben.
    Das Problem sind die dreiunddreißig Stufen. Schön und gut; ich könnte Yolanda erzählen, dass ich ihrem Sohn das Fliegen beibringen kann, aber wenn diese Hürde genommen ist, was dann? Selbst mich widert die Vorstellung an. Nachdem ich selbst all diese Qualen und Torturen durchgemacht habe, wie könnte ich es ertragen, sie einem anderen aufzuerlegen? Männer wie Meister Yehudi gibt es nicht mehr, und Jungen wie mich – dumm, leicht zu beeindrucken, ausdauernd – auch nicht. Die Welt war anders damals, und was der Meister und ich gemeinsam geleistet haben, wäre heute nicht mehr möglich. Niemand würde sich das gefallen lassen. Die Leute würden die Polizei holen, sie würden an ihren Kongressabgeordneten schreiben, sie würden ihren Hausarzt um Rat fragen. Wir sind nicht mehr so hart im Nehmen wie ehedem, und vielleicht ist es auch besser so, ich weiß es nicht. Aber eins weiß ich: Von nichts kommt nichts, und je höher man seine Ziele steckt, desto höher ist der Preis.
    Trotzdem, wenn ich an die schreckliche Zeit meiner Einweihung in Cibola zurückdenke, muss ich mich fragen, ob Meister Yehudis Methoden nicht doch zu hart gewesen sind. Als ich mich damals endlich zum ersten Mal vom Boden erhob, hatte das nichts mehr mit dem zu tun, was er mir beigebracht hatte. Es gelang mir ganz von selbst, auf dem kalten Fußboden der Küche, und es geschah nach einer langen, zermürbenden Zeit voller Tränen und Verzweiflung, als mir die Seele aus dem Körper zu fliehen begann und ich nicht mehr wusste, wer ich war. Vielleicht war die Verzweiflung das einzig wirklich Wichtige dabei. In dem Fall wären die körperlichen Qualen, denen er mich unterzog, nichts als Lug und Trug gewesen, ein Ablenkungsmanöver, das mir irgendwelche Fortschritte vorgaukeln sollte – während ich tatsächlich erst dann weiterkam, als ich mit dem Gesicht nach unten auf dem Küchenboden lag. Was, wenn es diese Stufen gar nicht gäbe? Was, wenn das Ganze bloß auf einen einzigen Augenblick – einen Sprung – eine blitzschnelle Verwandlung hinausliefe? Meister Yehudi hatte die alte Schule durchlaufen und brachte mich mit seinen Hexenkünsten dazu, an seinen Hokuspokus und seine hochtrabenden Reden zu glauben. Aber was, wenn das nicht der einzige Weg wäre? Was, wenn es eine einfachere, direktere Methode gäbe, ein Verfahren, das in der Seele anfangen und den Körper ganz auslassen würde? Was dann?
    Tief im Innern glaube ich nicht, dass jemand ein besonderes Talent haben muss, um sich vom Boden zu lösen und in der Luft herumzuschweben. Wir alle haben es in uns – jeder Mann, jede Frau, jedes Kind –, und mit genügend harter Arbeit und Konzentration ist jeder Mensch in der Lage, die Kunststücke, die ich als Walt der Wunderknabe vollbracht habe, zu wiederholen. Sie müssen lernen, aus sich herauszutreten. Damit fängt es an, daraus ergibt sich alles Weitere. Sie müssen sich gewissermaßen in Luft auflösen. Lassen Sie die Muskeln schlaff werden, atmen Sie, bis Sie spüren, wie Ihre Seele aus Ihnen herausströmt, und dann schließen Sie die Augen. So geht das. Die Leere in Ihrem Körper wird leichter als die umgebende Luft. Mit der Zeit wiegen Sie weniger als nichts. Sie schließen die Augen; Sie breiten die Arme aus; Sie lösen sich auf. Und dann steigen Sie ganz langsam vom Boden auf.
    Etwa so.
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