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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo
Autoren: Paul Auster
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war die kleine Rothaarige, die mir schon nach einer Woche nachzustellen begann. Sie sah nicht besonders gut aus, zumindest nicht im Vergleich zu den Tänzerinnen, mit denen ich es in Chicago getrieben hatte, aber ihre grünen Augen hatten so was Verträumtes, das mich anzog, drum ließ ich mich nicht lange bitten. Ich habe in meinem Leben nur zwei gute Entscheidungen getroffen. Das erste Mal als Neunjähriger, als ich mit Meister Yehudi in den Zug stieg. Das zweite Mal, als ich Molly Fitzsimmons heiratete. Molly hat mich wieder kuriert, und wenn man bedenkt, in was für einem Zustand ich in Newark gelandet war, war das keine Kleinigkeit.
    Ihr Mädchenname war Quinn, und sie war noch keine dreißig, als wir uns kennenlernten. Ihren ersten Mann hatte sie gleich nach der Highschool geheiratet, fünf Jahre später wurde er zum Kriegsdienst eingezogen. Nach allem, was sie erzählte, war Fitzsimmons ein netter, fleißiger Ire, der aber im Krieg weniger Glück gehabt hatte als ich. Er wurde ’43 in Messina von einer Kugel erwischt, und seitdem stand Molly allein da, eine junge, kinderlose Witwe, die für sich selbst sorgte und darauf wartete, dass irgendwas passierte. Weiß der Himmel, was sie an mir fand, aber ich flog auf sie, weil ich mich bei ihr wohl fühlte, weil sie den alten Witzbold in mir wieder auferweckte und einen guten Scherz zu würdigen wusste. Sie hatte nichts Auffälliges, nichts, was sie aus der Menge hervorhob. Wenn man ihr auf der Straße begegnete, sah sie aus wie irgendeine x-beliebige Arbeiterfrau: eine dieser Frauen mit molligen Hüften und breitem Hintern, die sich bloß schminken, wenn sie mal im Restaurant essen gehen. Aber Molly hatte Charakter, und wie, und auf ihre ruhige, bedachtsame Art war sie nicht weniger schlau als alle anderen, die ich gekannt habe. Sie war freundlich; sie war nicht nachtragend; sie hielt zu mir und versuchte nie, einen anderen Menschen aus mir zu machen. Dass sie im Haushalt ein bisschen schlampig war und nicht besonders kochen konnte, störte mich nicht. Schließlich war sie nicht meine Dienerin, sondern meine Frau. Sie war auch der einzige echte Freund, den ich seit der Zeit in Kansas mit Äsop und Mutter Sioux gehabt hatte, und sie war die erste Frau, die ich je geliebt habe.
    Unsere Wohnung lag im ersten Stock eines Hauses ohne Fahrstuhl im Newarker Bezirk Ironbound, und da Molly keine Kinder bekommen konnte, lebten immer bloß wir beide dort. Nach der Hochzeit überredete ich sie, ihren Job zu kündigen; ich selbst blieb bei Meyerhoff und arbeitete mich im Lauf der Jahre immer weiter nach oben. Damals konnte ein Ehepaar noch mit einem Gehalt über die Runden kommen, und nach meiner Beförderung zum Vorarbeiter der Nachtschicht hatten wir keine nennenswerten Geldsorgen mehr. Es war ein bescheidenes Leben, gemessen an den Maßstäben, die ich mir früher gesetzt hatte, aber ich hatte mich so weit verändert, dass es mir nichts mehr ausmachte. Zweimal die Woche gingen wir ins Kino, samstags abends aßen wir auswärts; wir lasen Bücher und sahen fern. Im Sommer fuhren wir nach Asbury Park ans Meer, und fast jeden Sonntag trafen wir uns mit irgendeinem von Mollys Verwandten. Die Quinns waren eine große Familie, und ihre Brüder und Schwestern waren alle verheiratet und hatten Kinder. Auf die Weise bekam ich vier Schwager, vier Schwägerinnen und dreizehn Nichten und Neffen. Für jemanden, der selbst keine Kinder hatte, war ich mit dem jungen Gemüse reichlich versorgt, aber ich kann nicht sagen, dass mir meine Rolle als Onkel Walt unangenehm gewesen wäre. Molly war die gute Fee, und ich war der Hofnarr: das stämmige Kerlchen, das ständig mit allerlei Klamauk und Witzen bei der Hand war und Purzelbäume auf den Verandastufen schlug.
    Ich habe dreiundzwanzig Jahre mit Molly gelebt – eine schöne lange Zeit, gewiss, aber nicht lange genug. Ich hatte vor, mit ihr alt zu werden und in ihren Armen zu sterben, aber dann kam der Krebs und nahm sie mir, ehe ich so richtig drauf vorbereitet war. Erst wurde ihr die eine Brust amputiert, dann die andere, und mit fünfundfünfzig verließ sie mich für immer. Die Familie tat ihr Bestes, mir zu helfen, aber die nächsten sechs, sieben Monate waren schrecklich, und ich lebte fast nur noch von Alkohol. Am Ende war es so schlimm, dass ich meinen Job in der Fabrik verlor, und es ist nicht auszudenken, was sonst noch mit mir geschehen wäre, wenn mich nicht zwei meiner Schwäger in eine Entziehungsklinik geschleppt hätten. Ich
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