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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo
Autoren: Paul Auster
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einfach hinter meinem Schreibtisch sitzen, staunte über meine Dummheit und versuchte meine Gedanken zu sammeln, ehe die Bullen auftauchten und mich abführten. Sie brauchten weniger als eine Stunde, und ich ging ohne einen Muckser mit, ließ mir lächelnd und scherzend Handschellen anlegen. Wenn Bingo nicht gewesen wäre, hätte ich für meinen Versuch, ein bisschen Gott zu spielen, wohl lange sitzen müssen, aber dank seiner Beziehungen konnte ein Arrangement getroffen werden, noch bevor der Fall vor Gericht kam. War auch besser so. Nicht bloß für mich, sondern auch für Dizzy. Ein Prozess hätte ihm nicht grade gutgetan – bei all den Anfeindungen und Skandalen, die so was zu begleiten pflegten –, und er war vollkommen zufrieden mit dem Kompromiss. Der Richter ließ mir die Wahl: Entweder ich bekannte mich einer weniger schweren Anklage für schuldig und saß sechs bis neun Monate in Joliet ab, oder ich verließ Chicago und meldete mich freiwillig zur Army. Ich entschied mich für die zweite Möglichkeit. Nicht dass ich sonderlich versessen drauf war, eine Uniform zu tragen, aber mein Typ schien in Chicago nicht mehr gefragt zu sein, und die Zeit war reif für einen Ortswechsel.
    Bingo hatte Fäden gezogen und Schmiergelder gezahlt, um mich aus dem Knast zu holen, aber das bedeutete nicht, dass er für meine Handlungsweise allzu viel übrig hatte. Er meinte, ich sei verrückt, neunundneunzig Komma neun Prozent verrückt. Jemand für Geld kaltmachen, in Ordnung, aber was musste man für ein Volltrottel sein, sich mit einem Nationalheiligen wie Dizzy Dean anzulegen? Wer sich so was ausdachte, musste völlig den Verstand verloren haben. Stimmt, so wird’s gewesen sein, sagte ich und versuchte gar nicht erst, mich zu rechtfertigen. Mochte er denken, was er wollte, mir war alles schnuppe. Das Ganze hatte natürlich seinen Preis, und meine Verhandlungsposition war denkbar schlecht. Statt Bingo für seine Dienste in bar zu bezahlen, erklärte ich mich bereit, ihm für die geleistete Rechtshilfe meinen Anteil am Club zu überschreiben. Das Mr. Vertigo aufgeben zu müssen war schon ziemlich hart, aber nicht halb so hart wie damals der Verzicht auf meine Kunst, nicht ein Zehntel so hart wie der Verlust des Meisters. Ich war jetzt nichts Besonderes mehr. Bloß wieder der alte Walter Claireborne Rawley, ein sechsundzwanzigjähriger GI mit Bürstenschnitt und leeren Taschen. Willkommen in der Wirklichkeit, Kumpel. Ich verschenkte meine Anzüge an die Hilfskellner, ich gab meinen Freundinnen einen Abschiedskuss, dann stieg ich in den Bummelzug und fuhr ins Ausbildungslager. Wenn man bedenkt, was ich hinter mir ließ, konnte ich wohl noch von Glück reden.
    Dizzy war inzwischen weg vom Fenster. Seine Saison hatte aus einem einzigen Spiel bestanden, und nachdem er Pittsburgh im ersten Inning seines ersten Einsatzes zu drei Runs verholfen hatte, machte er endlich Schluss. Ich weiß nicht, ob ihn meine Schocktherapie ein bisschen zur Vernunft gebracht hatte, war aber froh, als ich von seinem Entschluss in der Zeitung las. Die Cubs gaben ihm einen Job als First-Base-Coach, aber einen Monat später bekam er von der Falstaff-Brauerei in Saint Louis ein besseres Angebot und ging in die alte Heimat zurück, wo er für das Radio von den Spielen der Browns und Cardinals berichtete. «Dieser Job wird mich kein bisschen verändern», erklärte er. «Ich rede einfach weiter so, wie mir der Schnabel gewachsen ist.» Das musste man dem alten Raubein lassen: Die Hörer waren begeistert von dem volkstümlichen Geschwafel, das er in den Äther spuckte; er hatte einen solchen Erfolg, dass man ihn fünfundzwanzig Jahre lang weitermachen ließ. Aber das ist eine andere Geschichte, und ich kann nicht behaupten, dass ich ihm noch viel Beachtung geschenkt hätte. Als ich Chicago verließ, ging mich das alles nichts mehr an.

[zur Inhaltsübersicht]
    IV
    Da meine Augen für die Fliegerausbildung zu schwach waren, musste ich die nächsten vier Jahre durch den Schlamm kriechen. Ich wurde zum Fachmann für Würmer und andere Viecher, die auf dem Boden rumkrabbeln und sich von Menschenblut ernähren. Der Richter hatte gesagt, die Army würde einen Mann aus mir machen, und wenn Männlichkeit darin besteht, sich demütigen zu lassen und zuzusehen, wie anderen Arme und Beine weggeschossen werden, dürfte der Ehrenwerte Charles P. McGuffin das Richtige getroffen haben. Ich jedenfalls will möglichst wenig von diesen vier Jahren berichten. Anfangs
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