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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo
Autoren: Paul Auster
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Zeiten wiederaufleben ließen. Von meinen Erlebnissen habe ich schon das Wichtigste mitgeteilt, aber ihre Geschichten waren nicht weniger seltsam, nicht weniger abenteuerlich als meine. Statt ihre Millionen während des texanischen Ölbooms zu vervielfachen, hatte sie ihre Bohrer in trockenen Boden gesenkt und Bankrott gemacht. Das Ölgeschäft war damals noch eher ein Glücksspiel, und sie hatte eine Niete zu viel gezogen. 1938 waren neun Zehntel ihres Vermögens dahin. Damit war sie noch immer nicht arm, konnte aber die Wohnung in der Fifth Avenue nicht mehr halten, und nach ein paar weiteren Fehlschlägen gab sie schließlich auf und kehrte nach Wichita zurück. Eigentlich wollte sie bloß ein paar Monate in dem alten Haus bleiben, Bilanz ziehen und auf den nächsten Geistesblitz warten. Aber eins führte zum anderen, und als der Krieg ausbrach, war sie noch immer da. Infolge eines Gesinnungswandels, den man nur als verblüffende Kehrtwendung bezeichnen kann, ließ sie sich von der patriotischen Leidenschaft dieser Tage anstecken und arbeitete die nächsten vier Jahre freiwillig als Krankenschwester am Wichita-V.A.-Hospital. In der Rolle einer Florence Nightingale konnte ich sie mir kaum vorstellen, aber Mrs. W. war immer für eine Überraschung gut, und obwohl sie ausgezeichnet mit Geld umgehen konnte, war das doch keineswegs das Einzige, was sie im Kopf hatte. Nach dem Krieg stieg sie erneut ins Wirtschaftsleben ein, blieb aber diesmal in Wichita, wo sie nach und nach ein nettes, einträgliches Geschäft aufbaute. Und zwar ausgerechnet mit Waschsalons. Das klingt komisch nach all den schwindelerregenden Öl- und Börsenspekulationen – aber warum nicht? Sie erkannte als eine der Ersten die kommerziellen Möglichkeiten der Waschmaschine und kam durch ihr rasches Handeln der Konkurrenz um den entscheidenden Schritt zuvor. Als ich 1974 bei ihr auftauchte, besaß sie zwanzig Waschsalons in der Stadt und zwölf weitere in der Umgebung. Haus der Sauberkeit, so nannte sie ihr Unternehmen, und all die Münzen, die dort zusammenkamen, hatten sie wieder zu einer wohlhabenden Frau gemacht.
    Und was ist mit Männern?, fragte ich. Ach, jede Menge, antwortete sie, Männer wie Sand am Meer. Und Orville Cox – was ist mit ihm? Gestorben, sagte sie. Und Billy Bigelow? Weilt noch unter den Lebenden. Tatsächlich wohnte er gleich um die Ecke. Sie hatte ihn nach dem Krieg ins Waschsalon-Geschäft eingeführt, wo er bis vor sechs Monaten als ihr Manager und Vertrauter gearbeitet hatte; jetzt war er im Ruhestand. Der junge Billy ging auf die siebzig zu, und nach dem zweiten Herzinfarkt hatte ihm der Arzt geraten, die Pumpe ein bisschen zu schonen. Seine Frau war vor sieben oder acht Jahren gestorben, und da seine Kinder längst erwachsen und aus dem Haus waren, hatten er und Mrs. Witherspoon noch immer engen Kontakt miteinander. Sie bezeichnete ihn als den besten Freund, den sie je gehabt habe, und aus dem sanften Tonfall, mit dem sie das sagte, konnte ich schließen, dass sich ihre Beziehungen gewiss nicht auf bloße Fachsimpeleien über Waschmaschinen und Trockner beschränkten. Aha, sagte ich, seine Geduld hat sich also ausgezahlt, der liebe kleine Billy hat bekommen, was er wollte. Sie blinzelte mir spitzbübisch zu. Manchmal, sagte sie, aber nicht immer. Kommt auf meine Stimmung an.
    Es bedurfte keiner großen Überredungskünste, mich zum Bleiben zu bewegen. Die Sache mit der Hausmeisterstelle wäre ohnehin nur eine Zwischenlösung gewesen, und jetzt, da sich was Besseres ergeben hatte, änderte ich meine Pläne, ohne lange nachzudenken. Das Gehalt spielte natürlich bloß eine Nebenrolle. Ich war wieder da, wo ich hingehörte, und als Mrs. Witherspoon mir Billys ehemaligen Posten anbot, sagte ich, sicher, gleich morgen früh fange ich an. Die Arbeit selbst war mir gleichgültig. Wenn sie mich aufgefordert hätte, die Töpfe in ihrer Küche zu schrubben, hätte ich auch dazu ja gesagt.
    Ich schlief oben in demselben Zimmer, in dem ich als Kind gewohnt hatte, und nach einer gewissen Einarbeitungszeit führte ich die Geschäfte nicht schlecht. Ich hielt die Waschmaschinen am Laufen, ich trieb den Gewinn in die Höhe, ich überredete sie, in andere Branchen einzusteigen: eine Bowlingbahn, einen Pizzaladen, eine Spielhalle. Die vielen College-Schüler, die jeden Herbst in die Stadt kamen, sorgten für ausreichend Nachfrage nach Imbissen und billiger Unterhaltung, und ich war genau der Richtige, sie zu befriedigen. Ich machte
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