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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo
Autoren: Paul Auster
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Überstunden und arbeitete mir den Arsch ab, aber es gefiel mir, wieder für was verantwortlich zu sein, zumal die meisten meiner Projekte ziemlich erfolgreich waren. Mrs. Witherspoon nannte mich einen Cowboy, was aus ihrem Mund als Kompliment aufzufassen war, und die ersten drei, vier Jahre trabten wir auch wirklich ganz munter voran. Dann starb Billy, ganz plötzlich. Wieder ein Herzinfarkt, aber diesmal erwischte es ihn auf dem zwölften Fairway des Cherokee Acres Country Club, und bis endlich die Ärzte bei ihm waren, hatte er längst den letzten Schnaufer getan. Danach geriet Mrs. W. ins Trudeln. Sie ging nicht mehr morgens mit mir ins Büro, schien nach und nach das Interesse an der Firma zu verlieren und überließ die meisten Entscheidungen mir. Etwas Ähnliches hatte ich mit Molly durchgemacht, aber es hatte wenig Sinn, ihr zu erzählen, die Zeit würde alle Wunden heilen. Zeit war das Einzige, was sie nicht mehr hatte. Der Mann hatte sie fünfzig Jahre lang angebetet, und jetzt, da er gestorben war, konnte ihn keiner mehr ersetzen.
    Eines Abends, ich lag schon oben im Bett und las, hörte ich sie unten schluchzen. Ich ging zu ihr, wir sprachen eine Weile miteinander, dann nahm ich sie in die Arme und hielt sie fest, bis sie eingeschlafen war. Irgendwie muss auch ich eingenickt sein, und als ich am Morgen aufwachte, lag ich neben ihr unter der Decke auf dem großen Doppelbett. Es war dasselbe Bett, das sie früher mit Meister Yehudi geteilt hatte, und jetzt war ich an der Reihe, neben ihr zu schlafen, jetzt war ich der Mann, ohne den sie nicht leben konnte. Es ging ihr hauptsächlich um Trost, um Kameradschaft, sie schlief halt nicht gern allein; was aber nicht heißt, dass es gelegentlich nicht ganz schön heiß herging. Dass man alt wird, bedeutet ja noch lange nicht, dass die Begierden absterben, und die wenigen Skrupel, die ich anfangs deswegen hatte, legten sich bald. Die nächsten elf Jahre lebten wir zusammen wie Mann und Frau. Ich wüsste nicht, wieso ich mich dafür rechtfertigen sollte. Vor langer Zeit war ich so jung gewesen, dass ich ihr Sohn hätte sein können, aber jetzt war ich älter als die meisten Großväter, und wer so alt ist, braucht sich an keine Regeln mehr zu halten. Man tut, wozu man Lust hat, und nimmt sich, was man zum Leben braucht.
    Sie blieb fast die ganze Zeit unseres Zusammenlebens bei guter Gesundheit. Mit Mitte achtzig trank sie noch immer ein paar Scotch vor dem Essen und rauchte gelegentlich eine Zigarette, und an den meisten Tagen war sie noch so unternehmungslustig, dass sie sich feinmachte und mit ihrem riesigen blauen Cadillac auf Spritztour ging. Sie wurde neunzig oder einundneunzig Jahre alt (in welchem Jahrhundert sie geboren ist, habe ich nie erfahren), und nur die letzten achtzehn Monate war sie nicht mehr ganz auf der Höhe. Am Ende war sie fast blind, fast taub, fast nicht mehr in der Lage, aus dem Bett zu kommen, blieb aber trotzdem die Alte, und statt sie in ein Heim zu stecken oder eine Pflegerin anzuheuern, verkaufte ich das Geschäft und machte die schmutzige Arbeit selbst. Das war ich ihr doch wohl schuldig, wie? Ich badete sie und kämmte ihr die Haare; ich trug sie auf den Armen herum; ich wischte ihr nach jedem Malheur die Scheiße vom Arsch, so wie sie es damals bei mir getan hatte.
    Sie bekam ein Begräbnis erster Klasse. Dafür sorgte ich, da ließ ich mich nicht lumpen. Alles gehörte jetzt mir – das Haus, die Autos, das Geld, das sie selbst verdient hatte –, und da ich für die nächsten fünfundsiebzig bis hundert Jahre genug auf der hohen Kante hatte, spendierte ich ihr eine Abschiedsfeier mit allen Schikanen, die größte Show, die Wichita je erlebt hat. Einhundertfünfzig Autos folgten dem Sarg zum Friedhof. Der Verkehr war meilenweit im Umkreis lahmgelegt, und nach der Feier trampelten bis drei Uhr morgens ganze Horden von Leuten bei mir im Haus herum, soffen Schnaps und schlugen sich mit Truthahnschenkeln und Torte die Bäuche voll. Ich will nicht sagen, dass ich ein geachtetes Mitglied der Gesellschaft war, aber ich hatte mir im Lauf der Jahre ein gewisses Ansehen erworben und war in der Stadt kein Unbekannter. Und als ich die Leute zu Marions Begräbnis einlud, kamen sie in Scharen.
    Das war vor anderthalb Jahren. Die ersten zwei Monate hockte ich deprimiert im Haus herum, ohne recht zu wissen, was ich mit mir anfangen sollte. Gartenarbeit hatte ich nie gemocht, Golf war mir die zwei-, dreimal, die ich gespielt hatte, zu
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