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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo
Autoren: Paul Auster
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gestorben, genau wie alle anderen, die mir je was bedeutet hatten.
    Die Stadt war seit den zwanziger Jahren enorm gewachsen, bot aber noch immer nicht das, was ich mir unter einem guten Leben vorstellte. Es gab mehr Menschen, mehr Häuser und mehr Straßen, aber als ich mich an diese Veränderungen gewöhnt hatte, war es wieder dasselbe Provinzkaff wie damals. «Welthauptstadt der Luft» nannte man die Stadt, und ich musste ganz schön lachen, als ich die Plakate mit diesem Slogan sah. Die Handelskammer bezog sich damit auf all die Flugzeughersteller, die hier ihre Fabriken angesiedelt hatten, aber ich musste natürlich an mich selbst denken, den Original-Vogelmenschen, der früher mal in Wichita gewohnt hatte. Ich hatte einige Schwierigkeiten, das Haus zu finden, was meine Rundfahrt ein wenig gründlicher gestaltete als geplant. Damals hatte es am Stadtrand gelegen, einsam und allein an einem Feldweg, der in die freie Landschaft hinausführte, aber jetzt lag es in einer Wohngegend und stand mitten zwischen vielen anderen Häusern. Die Straße hieß Coronado Avenue und war mit allen modernen Errungenschaften ausgestattet: Bürgersteigen, Laternen und einer Asphaltdecke mit weißen Streifen in der Mitte. Aber das Haus sah gut aus, gar keine Frage: Die Schindeln glänzten weiß unter dem grauen Novemberhimmel, und die kleinen Bäume, die Meister Yehudi im Vorgarten gepflanzt hatte, ragten wie Riesen über das Dach. Der jetzige Besitzer war pfleglich damit umgegangen, und jetzt, da es so alt war, machte es den Eindruck von etwas Historischem, wie eine ehrwürdige Villa aus einer untergegangenen Epoche.
    Ich parkte den Wagen und stieg die Stufen zur Eingangstür hoch. Es war spät am Nachmittag, aber in einem Parterrefenster war Licht, und jetzt wollte ich, da ich nun mal hier war, die Sache auch zu Ende bringen, und drückte auf den Klingelknopf. Wenn die Bewohner keine Unmenschen waren, ließen sie mich vielleicht sogar rein und erlaubten mir um der alten Zeiten willen einen Rundgang. Bloß einen Blick hineinwerfen: Mehr erhoffte ich mir gar nicht. Es war kalt da draußen, und während ich wartete, dass mir jemand aufmachte, musste ich daran denken, wie ich zum ersten Mal, halbtot nach einer Odyssee durch diesen höllischen Blizzard, in dieses Haus gekommen war. Ich musste zweimal läuten, bevor ich von drinnen Schritte hörte, und als die Tür endlich aufging, war ich so in Erinnerungen an meine erste Begegnung mit Mrs. Witherspoon versunken, dass es mir erst nach ein paar Sekunden aufging: Die Frau, die da vor mir stand, war niemand anders als Mrs. Witherspoon selbst. Sicher, sie war älter, schwächer und runzliger geworden, aber trotzdem war es Mrs. Witherspoon. Ich hätte sie überall erkannt. Sie hatte seit 1936 kein Pfund zugenommen, ihr Haar war noch immer in demselben todschicken Rotton gefärbt, und ihre hellblauen Augen leuchteten so blau und hell wie eh und je. Sie war jetzt vier- oder fünfundsiebzig, wirkte aber kaum älter als sechzig – höchstens dreiundsechzig. Noch immer modisch gekleidet, noch immer in aufrechter Haltung, kam sie mit einer brennenden Zigarette zwischen den Lippen und einem Glas Scotch in der Linken an die Tür. Eine solche Frau musste man einfach gernhaben. Die Welt hatte zahllose Veränderungen und Katastrophen erlebt, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte, aber Mrs. Witherspoon war noch immer dasselbe Klasseweib wie damals.
    Ich erkannte sie, bevor sie mich erkannte. Das war verständlich, denn an mir war die Zeit längst nicht so spurlos vorübergegangen wie an ihr. Meine Sommersprossen waren praktisch verschwunden, ich war bullig und untersetzt, hatte schütteres graues Haar und eine dicke Brille auf der Nase. Von dem schneidigen Lackaffen, mit dem sie vor achtunddreißig Jahren bei Lemmele’s gespeist hatte, war kaum noch was übrig. Ich trug langweilige Alltagsklamotten – Anorak, Khakihose, Korduanschuhe, weiße Socken – und hatte zum Schutz vor der Kälte den Kragen hochgeschlagen. Von meinem Gesicht konnte sie wahrscheinlich nicht viel sehen, und was sie sah, war so abgehärmt, so mitgenommen von meinem Kampf mit dem Alkohol, dass mir nichts anderes übrigblieb, als ihr zu sagen, wer ich war.
    Das Weitere erübrigt sich, oder? Es flossen Tränen, es wurde erzählt, wir redeten und redeten bis in die frühen Morgenstunden. Eine schönere Wiedersehensfeier lässt sich kaum denken als die, mit der wir in dieser Nacht in der Coronado Avenue die guten alten
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