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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo
Autoren: Paul Auster
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herangekommen war, blickte ich von neuem auf. Die Zunge klebte mir am Gaumen; die Augen fielen mir aus den Höhlen polternd vor die Füße. Denn es war natürlich doch Meister Yehudis Wagen, und auf dem Bock saß niemand anders als der Meister selbst, der mit breitem Grinsen auf mich herabblickte. Er brachte den Wagen zum Stehen und tippte lässig, aber nicht unfreundlich an seinen Hut.
    «Hallo, Kleiner. Bisschen kalt heut Nachmittag für einen Spaziergang, findest du nicht?»
    «Das Wetter passt mir ausgezeichnet», sagte ich. «Hier draußen kann man wenigstens mal durchatmen. Wenn man zu lang an einem Ort bleibt, erstickt man am Ende an seinen eigenen Ausdünstungen.»
    «Ja, das kenne ich. Jeder muss sich mal die Beine vertreten. Aber jetzt ist der Ausflug vorbei, wird Zeit, nach Hause zu gehen. Steig auf, Walt, wollen mal sehen, ob wir nicht zurückkommen können, bevor die anderen merken, dass wir überhaupt weg waren.»
    Was blieb mir anderes übrig; ich kletterte auf den Sitz neben ihm, ein leichter Schlag mit den Zügeln, und das Pferd zog wieder an. Immerhin behandelte er mich nicht mit der üblichen Grobheit, und bei allem Ärger über das Scheitern meiner Flucht wollte ich ihn nicht wissen lassen, was ich im Schilde geführt hatte. Wahrscheinlich hatte er es ohnehin erraten; jedenfalls ließ ich mir nichts von meiner Enttäuschung anmerken und tat lieber weiter so, als hätte ich bloß einen Spaziergang gemacht.
    «Es ist nicht gut für einen Jungen, so oft eingesperrt zu sein», sagte ich. «Das macht ihn traurig und schlechtgelaunt, und dann kann er sich nicht im rechten Geist seinen Aufgaben widmen. Lässt man ihn aber ein bisschen an die frische Luft, dann macht er sich umso freudiger an die Arbeit.»
    «Ich höre, was du sagst, Freundchen», erklärte der Meister, «und ich verstehe jedes Wort.»
    «Und, wie sieht’s aus, Käpt’n? Ich weiß, Cibola ist nicht grade ’ne Traumstadt, aber ein Kino oder so was wird’s da doch geben. Wär schön, da mal abends hinzugehen. Kleine Spritztour, bisschen Abwechslung in den Alltag bringen. Vielleicht haben die sogar ’ne Baseballmannschaft, und wenn’s nur die unterste Liga wäre. Im Frühjahr könnten wir uns doch mal ein paar Spielchen ansehen? Muss ja nichts Großartiges sein wie die Cardinals. Ich hab nichts gegen Provinzvereine. Solange die Jungs einen Schläger halten können, soll’s mir recht sein. Man kann nie wissen, Sir. Ich finde, wir sollten’s mal riskieren, vielleicht haben Sie ja auch ein bisschen Spaß dabei.»
    «Ganz bestimmt sogar. Aber wir haben eine Menge Arbeit vor uns, und so lange müssen wir uns bedeckt halten. Je weniger wir uns blicken lassen, desto besser für uns. Ich will dir keine Angst machen, aber in der Gegend hier ist mehr los, als man meinen sollte. Wir sind von mächtigen Feinden umgeben, die von unserer Anwesenheit nicht gerade begeistert sind. Viele von ihnen hätten nichts dagegen, wenn uns plötzlich etwas zustoßen würde, und wir brauchen sie nicht noch zu reizen, indem wir ihnen vor der Nase herumspazieren.»
    «Was gehen uns die Leute an, wenn wir uns bloß um unsere Angelegenheiten kümmern?»
    «Das ist es ja eben. Manche Leute meinen, unsere Angelegenheiten gingen sie durchaus etwas an. Und von denen will ich mich möglichst fernhalten. Kannst du mir folgen, Walt?»
    Ich sagte ja, verstand aber in Wahrheit gar nichts. Ich hatte nur begriffen, dass es Leute gab, die mir ans Leder wollten, und dass ich nicht zum Baseball gehen durfte. Der wohlwollende Tonfall, in dem der Meister zu mir sprach, machte mir die Sache auch nicht gerade verständlicher, und während der ganzen Rückfahrt sagte ich mir immer wieder: Sei stark, nur nicht aufgeben. Früher oder später wirst du einen Ausweg finden, früher oder später wirst du diesem Voodoo-Zauberer durch die Finger schlüpfen.
    Mein dritter Versuch schlug genauso jämmerlich fehl wie die beiden anderen. Diesmal ging ich morgens los und schaffte es bis an den Ortsrand von Cibola, wo ich aber wiederum von Meister Yehudi erwartet wurde; da hockte er auf seinem Wagen und grinste mich selbstzufrieden an. Ich war völlig fassungslos. Denn anders als beim letzten Mal konnte ich seine Anwesenheit nun nicht mehr als Zufall abtun. Es war, als hätte er schon gewusst, dass ich weglaufen wollte, ehe ich selbst es wusste. Der Mistkerl saß in meinem Kopf und saugte mir die Säfte aus dem Hirn; nicht mal meine heimlichsten Gedanken konnte ich vor ihm verbergen.
    Trotzdem gab
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