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Sozialstaats-Dämmerung (German Edition)

Sozialstaats-Dämmerung (German Edition)

Titel: Sozialstaats-Dämmerung (German Edition)
Autoren: Jürgen Borchert
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Kapitel 1
    Wie Juristen Flüsse bergauf fließen lassen – Zur Semantik in der Sozial- und Familienpolitik und ihre Folgen für das Recht 22
    »Die Realität sieht in Wirklichkeit ganz anders aus!«
    Graffito, Erfurt 1991
    Wie kommt das Wort ins Fleisch? Diese Frage stellt uns das Neue Testament mit der Geschichte von der »Verkündigung«. Sprache kann Unvorstellbares bewirken, steht da. Bei der Sozialstaatsdebatte – was falsch läuft, wie es richtig sein müsste – stellt sich die Frage, wie die Vorstellungen, die allgemein herrschen, mit der ganz anderen Wirklichkeit auf einen Nenner gebracht werden können. Auch dafür ist die Sprache, genauer die Bedeutungslehre (»Semantik«), entscheidend. Aus falschen Begriffen resultieren unweigerlich fehlerhafte Vorstellungen. Das soziale Weltbild wird fehlerhaft geordnet, die Wahrnehmung ihrer elementaren Interessen für Betroffene immer schwerer und wertbasierte gesellschaftliche Verständigung unmöglich, wenn die zentralen Begriffe die Sachverhalte nicht (mehr) wirklichkeitsgetreu abbilden. Die Politik, deren Aufgabe es ist, aus Tatsachen Meinungen und daraus schließlich Gesetze zu machen, kann nicht einmal mehr die Tatsachen erkennen. Schließlich wird – noch einmal Norbert Blüm – »die große Konfusion zur Stunde der Manipulateure« , das Ende ist Tohuwabohu. Mittendrin, als Opfer und Täter dieser Entwicklung, finden wir dabei, an vielen Schaltstellen, die Juristen und das Bundesverfassungsgericht: »Nie haben Dichter die Natur so verändert wie Juristen die Wirklichkeit!« (Jean Giraudoux).
    Soziale Zerstörung durch Sprache
    Schon die Bibel weist mit der Geschichte vom Turmbau zu Babel auf die Bedeutung der Sprache für gesellschaftliches Gelingen und Kultur hin. Das ist lange her. Aber der 2003/04 schiefgegangene deutsch-schweizerische Brückenbau in Laufenburg am Oberrhein eignet sich genauso gut als Lehrstück. Hier passten die jeweils von deutscher und Schweizer Seite vorangetriebenen Brückenhälften am Ende nicht zusammen, weil beide Seiten in ihren Bauplänen zwar von »NN« gleich Normalnull als Bezugspunkt ausgingen, die Schweizer dies jedoch auf das Mittelmeer und die Deutschen auf die Nordsee bezogen. Dumm nur, dass diese Meere eine Höhendifferenz von 54 Zentimetern aufweisen. Obwohl man also identische Begriffe benutzt hatte, ging es trotzdem daneben, weil jede Seite darunter etwas anderes verstand. Genauso steht und fällt auch jede gesellschaftliche und staatliche Architektur mit der Sprache.
    Der semantische »Versicherungsbetrug«
    Die soziale Neuordnung nach dem Zweiten Weltkrieg begann mit einem Vortrag wie einem Paukenschlag. Einem Paukenschlag, der bis heute nachhallt und insbesondere bei der Riester-Rente für heftige Kontroversen sorgte, weil die damals entwickelte »Mackenroth-These« besagt, dass Kapitaldeckung, also Ansparen, niemals zur demografieresistenten Alterssicherung führen kann. Diese These war zwischenzeitlich heftig umstritten, seit der Finanzkrise 2008 und der akuten Eurokrise sind die Kritiker allerdings verstummt. Umso besser kann man jetzt die Riester-Bombe ticken hören. Schon bei der Beinahepleite der Hypo Real Estate drohte die Detonation, weil dort einige Riester-Fonds versammelt waren …
    Am 19. April 1952 hielt der Kieler Professor Gerhard Mackenroth, Ökonom und Soziologe, vor dem »Verein für Socialpolitik«, der tonangebenden Plattform von Wissenschaftlern und Praktikern der Sozialpolitik, ein flammendes Plädoyer für ein durch und durch transparentes Sozialsystem unter der Überschrift »Die Reform der Sozialpolitik durch einen deutschen Sozialplan«. 23 An den Anfang seiner Ausführungen stellte Mackenroth folgende Feststellung: »Die soziale Umwelt, in der wir heute Sozialpolitik treiben, hat sich gegenüber früher total verändert. Und zwar handelt es sich dabei um grundsätzliche Wandlungen in der ganzen westlichen Welt, zu denen die besonderen Ereignisse der deutschen Nachkriegszeit nur noch dazukommen. Die Wirrnis kommt nämlich nicht zuletzt daher, dass wir zum Teil noch immer die alte Sozialpolitik treiben in einer völlig veränderten Welt, dass wir die alten Konzeptionen beibehalten, die inzwischen zu reinen Fiktionen geworden sind, dass wir mit den alten Begriffen weiterarbeiten, die zur sozialen Wirklichkeit nicht mehr stimmen.« Nachfolgend richtet Mackenroth den Fokus auf die Sozialversicherung: Weil aller Sozialaufwand immer aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt werden
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