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Morgen des Zorns

Morgen des Zorns

Titel: Morgen des Zorns
Autoren: J Douaihy
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unfähig zu sprechen. Mit seinen kurzen Armen, mit denen er das große Steuerrad umschlang, mühte er sich an den unzähligen engen Kurven auf der aufwärtsführenden Straße zur Schule der Amerikaner ab. Auf jeden Fall spürten wir, dass Maurice es zum ersten Mal, seit er uns nach Hause brachte, nicht eilig hatte anzukommen. Auch wir, so kann ich mich entsinnen, waren nicht in Eile.
    Wir ließen die letzten versprengten Gebäude beidseits der von Zedern bestandenen Straße hinter uns und bogen beim Wasserreservoir ab. Kaum fiel ihm das Steuern des Busses auf der geraden Strecke etwas leichter und kaum wäre es an der Zeit gewesen, uns mitzuteilen, warum er uns an einem Montag nach Hause brachte, hörten wir, als vor uns die hohen Berge auftauchten, die bis zu jener Stunde noch in einem leichten Morgennebel versanken, sein Schluchzen. Mit einem Mal wurde uns klar, dass er nicht reden würde, und so hörten wir auf zu fragen und blickten ihn in dem breiten Spiegel an, in dem sonst er uns beobachtete … Seine großen Augen hatten die Farbe von grünen Äpfeln, wie sie uns mein Großvater stets mit der Begründung zu pflücken verbot, sie seien noch nicht reif.
    Maurice weinte, und vor uns breitete sich die Ebene aus, die zum Dorf führte. Die am Fenster sitzenden Schüler steckten ihre Köpfe nicht heraus, um sich dem Wind auszusetzen und den Anblick der Olivenbäume zu genießen, die in die entgegengesetzte Richtung, zur Stadt hin, an uns vorbeirauschten und die Monotonie der Ebene durchbrachen. Mitten auf der Ebene schauten wir uns an, zählten uns gegenseitig ab. Achtzehn Schüler aus verschiedenen Klassen waren wir, aber nicht alle stammten wir aus Barka. Zwei Fremdlinge hatten sich in unsere Reihen gemischt. Tatsächlich wohnten ihre Familien im Dorf, aber es waren Fremde. Dschamîl machte keinen Unterschied zwischen uns. Sie waren Einwohner Barkas, aber nicht Barkas Söhne. Aber sie waren vorzugshalber mit uns gefahren und riskierten, die auf uns wartenden Gefahren mit uns zu teilen, statt auf den elenden Schulbänken sitzen zu bleiben.
    Maurice weinte, als wäre er allein, als starrten ihn nicht all diese Augenpaare an. Er war ganz bei sich selbst. Unser Nachbar Maurice. Er war nicht mit Kindern gesegnet worden. Nachdem er die Schüler zu Hause abgeliefert hatte, sah ich ihn immer neben seiner Frau auf einer Holzbank unter einem Brustbeerenbaum sitzen, neben sich ein Radio, das laut Lieder von Muhammad Abdelwahhâb spielte. Man hätte meinen können, sie warteten nur darauf, dass sich der Abend herabsenke. Maurice war der erste Mensch, den ich vollkommen ungehemmt habe weinen sehen. Er wischte sich die Tränen nicht ab, sondern ließ sie die Wangen bis aufs Lenkrad herunterkullern. Es war nicht üblich, auf diese Art zu weinen, außer in Liebesfilmen, die sich die älteren Schüler, die aus der Schule Reißaus genommen hatten, im Roxy-Kino zu Gemüte führten. Seine grünen Augen wirkten in dem breiten Spiegel noch größer. Während Maurice weinte und wir ihn schweigend anstarrten, nahmen wir in der Stille die unterschiedlichen Tonlagen des Quietschens und die Erschütterungen wahr, die der Omnibus erzeugte und die wir während unserer normalen Fahrten in Maurice’ schwankendem Bus mit unserem ununterbrochenen Lärmen übertönten.
    Erst unsere Ankunft in Akbeh lenkte uns von Maurice ab. Dort tauchte vor uns das auf dem Hügel kauernde Dorf auf, das noch immer von den letzten Resten der vom Fluss aufsteigenden weißen Nebelschwaden eingehüllt war. Nachdem Maurice vor der letzten Kurve abgebremst hatte, fuhren wir mit quietschenden Bremsen abwärts, bis die Menschenmenge vor uns auftauchte, die sich neben der Eisenbrücke um einen Militärpanzer geschart hatte. Ein Soldat mit einem in Tarnfarben gestrichenen Helm blickte vom Turm eines Panzers herab. Nur Frauen und Soldaten waren zu sehen. Unter ihnen konnte ich meine Tante ausmachen, sie trug ein rotes Kleid, ihr Haar war zerzaust. Die meisten anderen Frauen waren schwarz gekleidet. Ich weiß nicht, warum man sie und nicht jemand anderen geschickt hatte, mich abzuholen. Ich vermutete, meine Mutter und mein Vater seien mit dem beschäftigt, was da vor sich ging. Ich erblickte sie schon von weitem: Die Arme über der Brust verschränkt, zuckte sie nervös mit den Schultern. Etwa zwanzig Frauen hatten sich zu einem einzigen Block versammelt, auf der Brücke und in ihrer Nähe stand eine kleine Schar Soldaten. Als wir aus dem Bus stiegen, hörten wir einen
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