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Morgen des Zorns

Morgen des Zorns

Titel: Morgen des Zorns
Autoren: J Douaihy
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I
    Man informierte uns erst am nächsten Tag. Sorglos ließ man uns schlafen, im oberen Stockwerk, im Saal des Ostflügels, wo durch die weit geöffneten Fenster der Geruch des nahe gelegenen Flusses und bei Sonnenaufgang die Stimmen der Muezzine zu uns hereindrangen; wo wir die Hitze der Juninächte zu vergessen versuchten, indem wir die wenigen Autos beobachteten, die durch die Straßen fuhren; und miteinander Streitigkeiten ausfochten, bei denen sich die frechen faulen Schüler an den Trägern dicker Brillen rächten, die uns die Lehrer als Vorbild für Fleiß hinstellten.
    Es war kurz vor sieben, als der Direktor, gefolgt vom Pförtner des Internats, ins Klassenzimmer trat. Wer von uns von Müdigkeit überwältigt worden war – und das waren viele an jenem Montagmorgen –, hob den Kopf. Frère Ambroise würde nicht in Begleitung von Dschamîl al-Râsi hier auftauchen, wenn es nur um die schlechten Ergebnisse der Mathematikarbeit ginge oder weil er Wind davon bekommen hatte, dass wir am Vortag Volkslieder mit lateinischen Kirchenhymnen vermischt und den maronitischen und katholischen Familien vorgesungen hatten, für die die Schulkirche sonntags ihre Tore öffnete. Auf solche Regelwidrigkeiten pflegte der Direktor mit seinem mit beißenden Worten verzierten Französisch zu antworten. Sein Akzent verwirrte uns indes mehr als die Namen der tropischen Vögel und Wüstenreptilien, die er der ganzen Klasse oder einzelnen von uns an den Kopf warf. Dschamîl al-Râsi hingegen war mit seiner hageren Statur und seiner schweigsamen Art das Auge der Schule und die Verbindung zur Außenwelt. Er verhandelte mit den Demonstranten, wenn die Rädelsführer in den vorderen Reihen die Menge bis zum Schulportal führten, welches auf den Markt der Kupferschmiede hinausging, weil sie hofften, dass der Unterricht – und sei es auch nur ein einziges Mal – ausfalle und sich die Schüler dem Umzug anschließen könnten, mit dem sie gegen die dreifache Aggression gegen Ägypten protestierten. Wer dringend etwas benötigte, dem lieh er Geld, und er überbrachte den Internen unter uns knapp gefasste Ratschläge der Eltern:
    – Anîs, du sollst anständig essen und darfst die Schule nicht heimlich verlassen, um dich in den Straßen herumzutreiben. Die Lage ist zu unsicher …
    Wenn einer von ihnen in die Stadt herunterkam, um Einkäufe zu erledigen oder im Rathaus eine Grundstückshypothek zu bezahlen, ging er bei Dschamîl vorbei und hinterließ bei ihm ein Stück Ziegenkäse oder ein paar Nudeln mit Zucker für uns. Es war allein seine, Dschamîls, Aufgabe, Dinge zu vermitteln, die wir, so hatten wir das Gefühl, unmöglich auf Französisch verstehen konnten. Denn die Sprache, die wir in unseren Büchern mit den melancholischen Bildern uns zu entziffern bemühten und die den schwarz gekleideten Frères so flüssig von der Zunge ging, bezeichnete unserer Meinung nach Dinge, die in anderen Milieus zu Hause waren, welche nichts mit der Welt zu tun hatten, die uns umgab. Für unsere Realität, für unsere Namen, dafür hatten wir eine eigene Sprache, unsere Sprache.
    Dschamîl al-Râsi lehnte sich mit dem Rücken gegen den Türrahmen und sagte in trockenem Ton:
    – Die Schüler aus Barka sollen ihre Bücher einpacken …
    Das war sein Auftrag: den muslimischen Schülern mitzuteilen, dass sie am Opferfest einen zusätzlichen Tag freihatten, ebenso die griechisch-orthodoxen einen Tag am orientalischen Osterfest. Oder die Kinder aus den schneebedeckten Bergdörfern zwei Stunden vor Unterrichtsende nach Hause zu entlassen. Wenn die Aufsicht durch die Lehrer nachgelassen hatte, wurden seine Ankündigungen mit Rufen und Pfiffen aufgenommen. Bei uns aber, »den Schülern aus Barka«, verwandelte sich die Bekanntgabe des frühzeitigen Unterrichtsendes in Niedergeschlagenheit bei den Älteren, in stumme Freude über einen aus den Fugen geratenen Wochenbeginn bei den Kleinen. Aber uns alle erfasste eine böse Vorahnung über das Bevorstehende.
    Als wir Dschamîl al-Râsis Worte vernahmen, sammelten wir nicht in aller Eile lärmend unsere Sachen ein, wie die Schüler angesichts einer solchen Ankündigung es sonst zu tun pflegten. Frère Ambroise konnte es sich trotz seiner offensichtlichen Sorge um uns nicht verkneifen, seine Befehle auf Französisch zu erteilen, und bestätigte damit unsere Vermutung, dass er zwar Arabisch verstand, es aber vor uns verheimlichen wollte, um uns in eine Falle tappen zu lassen:
    – Und macht keinen Lärm auf der
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