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Morgen des Zorns

Morgen des Zorns

Titel: Morgen des Zorns
Autoren: J Douaihy
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gehören und einer vom Dorf zu sein, ist ungewiss. Du kannst niemals wissen, wann man über dich und deine Eltern und deine Familie spricht, flüsternd, wann man behauptet, dass ihr »Fremde« seid, die Assad Bey aus Akkar mitbrachte, damit ihr ihm ein Haus baut. Der unwissende Zuhörer glaubt, dass sich diese berufsbedingte Zuwanderung gestern ereignet habe, doch wenn man Nachforschungen über den Lebensweg dieser hochgestellten Persönlichkeit, des Besitzers des großen Hauses, anstellt, so findet man heraus, dass es ganz sicher vor dem Jahr 1887 geschehen sein muss, denn in diesem Jahr wurde das Haus fertiggestellt, dessen Bogen deine Vorfahren erbaut und dessen glatte Steine sie geschleppt haben …
    Ich sorgte mich weiterhin um das Schicksal der beiden fremden Schüler, die sich uns angeschlossen hatten, bis ich die Hupe des Autobusses vernahm, die mich ablenkte. Während wir uns auf die Frauen aufteilten, die gekommen waren, um uns abzuholen, blieb Maurice abwartend auf seinem Fahrersitz hocken. Seine Hände lagen locker auf dem Lenkrad, die grünen Augen waren noch immer feucht von seinen stummen Tränen. Wie er so dasaß und seine Hände mit ihrem ganzen Gewicht auf dem Steuer ruhen ließ, hatte er ungewollt ein Hupen ausgelöst. Die Frauen erschraken, und einige von ihnen zogen unbewusst die Kinder zu sich heran. Als ich meine Tante fragte, warum Maurice uns nicht bis nach Hause gebracht habe, wie er es gewöhnlich tat, ermahnte sie mich, den Mund zu halten, nicht nach hinten zu blicken und schneller zu gehen. Wir traten auf eine Kreuzung, so dass Bus, Soldaten und die über den Fluss führende Eisenbrücke unseren Blicken entschwanden.
    Die Schar der Frauen und Schüler dezimierte sich, einige bogen in die Seitenstraßen ein, um so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Immer wieder blickten sich die Frauen nach allen Richtungen um. Wir vernahmen den Schlag der Glocke der Kirche zur Heiligen Jungfrau im Unteren Viertel, aber er klang nicht wie die üblichen Schläge, die zur Messe riefen, und auch nicht wie die dreifachen Schläge, die von einem Trauerfall kündeten. Es war nur ein einzelner Schlag, wie wir ihn nicht gewohnt waren. Er wogte über dem Schweigen des Dorfes, dann folgte eine lange Stille, ein Schlag, Stille … Mir fiel auf, dass meine Tante, immer wenn wir an der Mündung einer der Gassen vorbeigehen wollten, die in die Viertel hineinführten, mich auf die andere Seite schob, um mich mit ihrem Körper zu verdecken. In jenem Augenblick war mir nicht bewusst, dass sie lieber selbst von einer Kugel getroffen werden wollte, die aus der Tiefe einer dieser Gassen auf uns abgefeuert werden könnte. Sie beschleunigte den Schritt und zog mich mit, bis wir bergab gingen.
    Dann tauschten wir die Rollen. Nun war sie es, die sich umdrehte, um sich zu vergewissern, dass niemand mehr in Hörweite war. Ich hatte das Gefühl, dass wir verfolgt würden, und so beschleunigte dieses Mal ich den Schritt, ohne dass sie dies von mir verlangte. Sobald wir aber ein Stück innerhalb des Viertels vorangekommen waren, schien sie ein wenig ruhiger zu werden. Sie begann zu reden. Ich weiß nicht, warum, aber sie sagte, das Beste, was ihr in ihrem ganzen Leben widerfahren sei, wäre, dass sie nicht geheiratet habe, obwohl die besten Jungs »um meine Hand angehalten haben«, und sie begann sie aufzuzählen: Salmân Abu Schalhah, Saîd Antoun und ein Dritter, der nach Mexiko emigriert sei, wo er großen Reichtum erworben habe. Er habe sich später am Bau der neuen Dorfkirche beteiligt. Eine glückliche Entscheidung sei es gewesen, dass sie die Heirat stets abgelehnt habe. Dann blieb sie stehen und sagte mit übertriebenem Abscheu, dass sie die Männer, ihre Grobheit und ihren Geruch hasse, und dass sie Kinder genauso hasse, und was hätten Kinder denn schon für einen Nutzen!
    Als wir an einer Lücke zwischen den Häusern vorbeigingen, durch die der Horizont sichtbar wurde, hörte sie auf zu reden. Sie packte mich an der Schulter, um mich in das kleine Dorf zu führen, das auf einer der Terrassen des Berges kauerte, welcher von Osten auf uns herabblickte. Dann sagte sie, dass dort kein Stein mehr auf dem anderen liege. Ich machte mir keine Vorstellung davon, was da vor sich ging, außer dass ein unfassbares Unglück geschehen sein musste, über das uns die Erwachsenen nicht in allen Einzelheiten informieren wollten. Aber ihre Andeutungen und Mienen verrieten uns, dass die Welt um uns herum dabei war einzustürzen. Was
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