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Morgen des Zorns

Morgen des Zorns

Titel: Morgen des Zorns
Autoren: J Douaihy
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Treppe!
    Augenscheinlich wollte er einen Teil seiner Autorität zurückerlangen, die durch seine allzu rasche Zustimmung zu unserer Entlassung untergraben worden war. Man hatte ihn wohl von der lebenswichtigen Notwendigkeit dieser Maßnahme überzeugt. Ein plötzliches Schweigen legte sich über Hunderte externer Schüler, die gerade erst eintrudelten. Als sähen sie uns zum ersten Mal in ihrem Leben, starrten sie uns an, wie wir, unsere Ranzen auf dem Rücken, den Hof überquerten. Wir gingen an der kleinen Holztribüne vorbei, wo wir uns, jede Klasse für sich, vor Photo Davidijân aufzustellen pflegten, um gemeinsam mit unseren Lehrern das Erinnerungsfoto aufzunehmen. In diesem unseligen Jahr 1957 würden wir Schüler von Barka jedoch nicht auf den Fotos zum Schuljahresende zu sehen sein. Dschamîl, der uns zum Tor brachte, brach trotz der ihn umschwirrenden Fragen und der Händchen, die ihn an der Schulter zogen und sich so fest in sein Jackett krallten, dass es beinahe zerriss, sein Schweigen nicht. Wie jemand, der jede Verantwortung von sich weist, sagte er schließlich:
    – Fragt Maurice.
    Den Busfahrer. Dschamîl hatte recht, die Sache Maurice zu überlassen, denn der Busfahrer war einer von uns, während Dschamîl aus einem weit entfernten Dorf in Akkar an der syrischen Grenze stammte. Maurice brachte uns zu unseren Eltern, wenn uns die Schule nach langem Drängen vielleicht einmal im Monat Freiheit gewährte. Je länger unsere Abwesenheit vom Dorf andauerte, desto größer, so glaubten unsere Eltern, sei unsere Chance auf Rettung. Wenn Maurice darauf wartete, dass wir einstiegen, hielt er das Steuer mit beiden Händen fest umklammert und starrte ins Leere.
    – Maurice!?
    Auch er antwortete nicht.
    Wir riefen ihn, stellten ihm in allen Tonlagen alle nur erdenklichen Fragen. Man hätte meinen können, er wolle nicht vor einer fremden Person sprechen, vor Dschamîl al-Râsi, der noch immer dort stand und Zeuge unseres Aufbruchs war. Er überwachte unser Verhalten auf den wenigen Metern Bürgersteig, der den Schulhof vom Autobus trennte, welcher neben dem Tor parkte – auf jenem externen Bereich, der noch Dschamîls Kontrolle unterstand.
    – Maurice! Was gibt es Neues? Wo kommst du her?
    Unzählige Fragen, eine jede von ihnen voll brennender Ungeduld, die ihm indes kein einziges Wort entreißen konnte. Er drehte sich nicht einmal nach hinten um oder blickte in den Spiegel, wie es seine Gewohnheit war, um sich zu vergewissern, dass wir uns diszipliniert verhielten und vollzählig waren. Dschamîl al-Râsi wartete, bis der letzte von uns eingestiegen war. Dann schloss er die hintere Bustür und sagte verlegen, wie jemand, der uns all sein Wissen anvertraut, oder als wollte er uns mit einer letzten Ermahnung verabschieden:
    – Passt auf euch auf!
    Maurice hörte die Tür zuschlagen, zündete den Motor und machte sich mit uns auf den Weg, ohne das Kreuz zu schlagen. Wir stritten uns nicht um die Fensterplätze und stürmten auch nicht los, um die breite Rückbank unter uns aufzuteilen, wo wir uns gerne der Länge nach breitmachten und unsere Beine nach Belieben ausstreckten, was uns die ermüdende Disziplin in den Klassenräumen vergessen ließ.
    Zuerst war Maurice ganz darin vertieft, uns aus der Stadt herauszukutschieren. Er schien die Schwierigkeiten, den Bus durch die engen Straßen zu steuern, als Vorwand zu nehmen, eine Antwort auf unsere ununterbrochenen Fragen hinauszuzögern. Und mit äußerster Beklemmung, die ihm deutlich anzusehen war, zu erklären, dass er nicht antworten könne, solange er sich darauf konzentrieren müsse, einen Zusammenstoß mit Obstkarren, umherziehenden Süßholzverkäufern oder akrobatisch durch den Verkehr steuernden Fahrradfahrern zu vermeiden, die ihren Kunden dicke Bohnen und Kichererbsenmus nach Hause brachten. Er wahrte sein Schweigen und stöhnte an jenem Tag auch nicht laut über das pulsierende Chaos auf dem Weizenmarkt. Er beschimpf-te nicht die Träger, die, unter ihrer schweren Last zusammengebrochen, die Straßen verstopften. Er legte sogar Geduld mit einem Kutscher an den Tag, der mit seinem Pferd mitten zwischen dem auf dem Bürgersteig zum Verkauf ausgebreiteten Gemüse stecken geblieben war und den Verkehr behinderte. All diese Vorkommnisse waren seiner Meinung nach offenkundige Beweise für die Unfähigkeit der Araber, Kriege zu gewinnen, ohne dass er deutlich machte, ob er über diese Niederlagen glücklich war oder darunter litt. An jenem Morgen schien er
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