Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Morgen des Zorns

Morgen des Zorns

Titel: Morgen des Zorns
Autoren: J Douaihy
Vom Netzwerk:
wirklich geschah, begriff ich erst, als ich einen Kameraden in meinem Alter traf, der zu den Burschen des »Banden«-Viertels gehörte. Er redete in meiner Sprache mit mir, und was er sagte, grub sich als erste Version der Ereignisse in mein Gedächtnis ein.
    Als wir einen schmalen Durchgang betraten, wurde meine Tante von einem Schluckauf gepackt. Das erste Schlucken kam so überraschend und heftig, dass ihr Oberkörper nach hinten geworfen wurde und ihr ganzer Leib erzitterte. Sie blieb stehen, und man hätte meinen können, sie wolle sich umschauen, um zu erfahren, woher dieses Geräusch gekommen war. Sie hielt nicht inne in ihrem Redefluss, sie sprach schnell, sie redete vor sich hin und richtete ihre Worte nicht mehr an mich. Erst später begriff ich, dass ihre Worte desto schneller und aufgeregter hervorsprudelten, je näher wir dem Kirchplatz kamen. Sie schimpfte über die Feuchtigkeit, die unser Schicksal sei, über das Rheuma, das die Kinder befiel, über den mangelnden Glauben und die Gier. Sie erwähnte Namen von Leuten, die jemandes Vertrauen missbraucht, und von anderen, die gestohlen und getötet hatten … Ich bat sie, mit dem Reden aufzuhören, weil sich sonst ihr Schluckauf noch verschlimmere.
    Dies war der einzige Satz, den ich gesprochen hatte, seit sie mich, nachdem ich aus Maurice’ Omnibus gestiegen war, an die Hand genommen hatte. Aber sie beachtete mich gar nicht und verfluchte weiter die Vorfahren, die diesen Ort gewählt hatten, um sich hier niederzulassen. Warum hatten sie sich nicht einen anderen Platz gesucht, am Ufer des Meeres, von dem aus wir das Antlitz Gottes würden sehen können? Stattdessen hatten sie uns hier zwischen zwei Flüssen eingezwängt … Wir gelangten zum Tor des Nonnenklosters, wo wir die Stimme einer laut klagenden Frau vernahmen … Meine Tante blieb wie versteinert stehen, als sie die heisere Stimme hörte, dann fiel sie mit scharfen Worten über die Frau her.
    – Seit sechs Uhr in der Früh hat diese Hure ihren Mund nicht gehalten, sie hat nicht mal Luft geholt, sie wird sie noch alle umbringen mit ihrem Geheul!
    Dann fragte sie mich, noch immer in kurzen, regelmäßigen Abständen vom Schluckauf geschüttelt, ob ich alleine nach Hause fände. Ich nickte. Sag deiner Mutter, dass deine Tante zu nichts mehr taugt. Sie beugte sich über mich und gestand mir flüsternd, dass sie den Kirchplatz, wo wir wohnten, seit gestern nicht mehr betreten habe. Und dass sie sich den ganzen Tag und die ganze Nacht um sich selbst gedreht und verstohlen einen Blick hinter die Häuser geworfen, sich aber nicht getraut habe, den Blick lange dort verweilen zu lassen; immer wieder habe sie sogleich die Augen geschlossen und das Weite gesucht.
    Ich setzte meinen Weg alleine fort. Höchstens noch zweihundert Meter. Bevor der Platz vor meinen Augen auftauchte, sah ich den Rosenpoet in der Kuppel des Glockenturms stehen. Ganz oben, dort wo die Schwalben die Nacht verbrachten, nachdem sie im Frühling vor Sonnenuntergang so niedrig ihre Kreise zogen, dass sie manchmal unsere kleinen Köpfe berührten. Er war es, der die Weihnachtskrippe baute, die er mit großen Figuren bevölkerte und durch die er wasserfallartig das Wasser rauschen ließ. Der Rosenpoet bastelte Papierflugzeuge und kritzelte mit Kohle Sprüche auf die Mauern des Viertels, in denen er zur Einheit des »Fruchtbaren Halbmonds« und zur Glorifizierung des »Führers« aufrief und die er mit seinem Pseudonym »Rosenpoet« signierte. Ich sah, wie er, den Rücken gegen die Glocke gelehnt und gemächlich vor und zurück schaukelnd, ohne dass die Glocke auch nur einen Ton von sich gab, von oben auf den Platz starrte. Mit der Hand zeigte er auf bestimmte Punkte unten und zählte laut, eins, zwei, drei …, bis er die Zehn erreichte. In dem Moment schlug er sich mit der Hand so fest gegen die Brust, dass ihn der Stoß nach hinten warf und die Glocke einmal schlug. Dann begann er von vorne, eins, zwei, drei …, es waren zehn Männer auf zehn Betten.
    Sie hatten die Betten aus den benachbarten Wohnungen geholt und die Toten daraufgelegt. Meine Mutter hatte ihnen das Bett meines zwei Jahre älteren Bruders zur Verfügung gestellt, und diese Bevorzugung sollte während unserer ganzen Pubertät Anlass zum Streit zwischen uns sein. Er prahlte damit, und ich tat, als widere mich das an. Ich wunderte mich auch über unsere Nachbarin, die darauf bestanden hatte, dass man ihren Bruder auf ihr Bett lege. Danach wusch sie die Laken nicht mehr,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher