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Titel: Mobile
Autoren: Andreas Richter
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und altert, wie alles, was lebt, und eines Tages wird er sterben, wie wir alle, und er kann diesen Tag zwar um Jahre oder Jahrzehnte oder vielleicht sogar Jahrhunderte hinausschieben, aber er kann ihn nicht verhindern. Eines Tages wird auch er sterben. Er wird sterben, weil in uns allen so etwas wie ein Lebensfeuer brennt, und dieses Feuer brennt nicht unendlich. Irgendwann erlischt die Flamme, weil du genug erlebt hast im Leben, genug gesehen hast, genug gelacht und genug geweint, genug geliebt und genug getrauert. Irgendwann ist Schluss, irgendwann magst du nicht mehr. Und dann will man nur noch seine Ruhe haben. Sterben. So wird es auch unserem Scheißkerl ergehen.«
    Joachim deutete auf die Flasche in Michaels Hand und bedeutete ihm, sie ihm zu geben.
    »Nein«, sagte Michael bestimmend, »das ist meine. Außerdem habe ich bereits daraus getrunken.«
    »Nun gib mir schon den Fusel! Wir haben mit derselben Frau geschlafen, warum also sollten wir am Ende des gemeinsames Weges nicht aus derselben Flasche trinken?«
    Mit einem müden Lächeln reichte Michael ihm die Flasche. Joachim trank einen tiefen Schluck.
    »Merkwürdig, dass er dir diesen Tausch überhaupt anbietet«, sagte Michael.
    »Du meinst, das mit meinem Restleben im Tausch gegen Daniels gesamtes Leben?«
    »Weshalb bietet er dir diesen Handel an, obwohl er sich damit vermutlich schlechter stellt? Es wäre für ihn nur dann ein guter Deal, wenn du deinen Sohn überleben solltest, weil der Kleine früh verstirbt.«
    Zögernd sagte Joachim: »Vielleicht weiß er mehr über Daniels weiteren Lebensverlauf und darüber, wie alt er werden würde.«
    »Nein, das glaube ich nicht. Dazu gab es zuviel, was dieser George nicht wusste. Er wusste nicht, wer von uns der Vater des Kleinen ist. Wie alt du bist. Er hat große Wissenslücken rund um die Sache mit seinem verfluchten Mobile. Er weiß auch nicht, dass ich Ulis Bruder bin, er hat nicht die geringste Ahnung, dass ich seit dreißig Jahren weiß, was damals mit den beschissenen Murmeln gelaufen ist.«
    Michael streckte fordernd die Hand aus. Joachim reichte ihm die Flasche. Michael trank einige Schlucke. »Vielleicht ist dein Sohn nur der Lockvogel«, sagte er dann, von seinen Gedanken selbst überrascht. »Das ist doch mal eine interessante Variante. Dein Sohn ist nur der Lockvogel, und der Scheißkerl kann die Sache nicht mehr rückgängig machen, wenn mit dem Lockvogel etwas nicht funk tioniert. Im Grunde ist er gar nicht scharf auf das Kind. Er ist scharf auf dich. Er wäre auch scharf auf Carola, wenn sie an deiner Stelle wäre. Oder auf mich, wenn ich du wäre.«
    »Häh? Geht's noch verworrener? I ch kann dir überhaupt nicht folgen ... .«
    »Wenn du und er den Deal besiegeln , kann er die Ablösung beenden, das nehme ich dem Scheißkerl schon ab. Kommt der Deal aber nicht zustande, kann er die Ablösung nicht mehr beenden. Oder aber, er will die Ablösung nicht beenden. Wobei: Im Grund ist das alles auch vollkommen egal.«
    »Genau. Wenn dieser George mein restliches Leben haben will und dafür meinen Sohn am Leben lässt, soll er mein Restleben bekommen.«
    Michael trank einen Schluck, lehnte den Kopf in den Nacken und fragte: »Wie sieht er für dich aus, dieser George? Sein Gesicht, sein Körper?«
    »Sein Körper hat viel Spannung, er ist schlank. Das ist nicht der Körper eines Greises. Das Gesicht … er hat ein paar tiefe Falten, aber trotzdem ist das Gesicht nicht wirklich alt, alte Gesichter sehen anders aus. Es ist eher… völlig unharmonisch. In seinem Gesicht ist keine Harmonie, kein Fluss. Es sieht ein bisschen so aus, als wäre es aus Einzelteilen zusammengesetzt. Seine Haare sind grau, aber nicht dünn oder stumpf wie das Haar alter Menschen. Dieser Kerl ist alt und gleichzeitig ist er nicht alt. Irgendwie eigenartig.«
    »Genau, Jo. Sein Körper wirkt dynamisch, doch sein Gesicht ist alt - nicht steinalt, aber alt. Und nun komme ich auf diesen Deal zurück: Deine restlichen Lebensjahre für die gesamte Lebenserwartung deines Sohnes. Also: Warum bietet er dir den Deal an?«
    Joachim forderte die Weinflasche. Michael reichte sie ihm. Joachim trank einen Schluck und sagte: »Vielleicht bringt ihm ein junges Menschenleben zwar biologisch mehr, aber in anderer Hinsicht zu wenig. Ich meine damit… - meine Güte, es klingt so abgedreht ... . Also: Er bietet mir einen Deal an, der auf den ersten Blick betrachtet ein schlechter Handel für ihn ist. Vielleicht geht es ihm nicht ausschließlich
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