Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mobile

Mobile

Titel: Mobile
Autoren: Andreas Richter
Vom Netzwerk:
auf dem Weg nach Hause sind? Sie macht sich sicherlich die größten Sorgen.«
    »Caro weiß Bescheid. Ich habe ihr eine SMS geschickt.«
    »Bloß eine SMS?«
    »Ich hatte nicht die Kraft, mich all ihren Fragen zu stellen. Sag' mal, wie sieht es aus: Hättest du nicht Lust, sie anzurufen und mit ihr zu sprechen? Ihr Entwarnung zu geben?«
    »Ja, das würde ich sehr gern tun.« Michael lächelte leicht. »Ich werde ihr erzählen, dass alles vorbei ist und dass sie keine Angst mehr haben muss. Mehr nicht, das reicht für den Moment.«
    Joachim zog sein Handy hervor und dr ückte eine Nummer. Dann reichte er es Michael. »Grüß' sie! Und sag ihr, dass ich mich nie zuvor mehr auf Zuhause gefreut habe als heute.« Mit diesen Worte ging Joachim in Richtung Duty-Free-Shop.
    Keine zehn Minuten später verließ er das Geschäft wieder, in der Hand eine Plastiktüte mit Geschenken. Als er zur Sitzreihe hinübersah, auf der Michael Platz genommen hatte, erblickte er bloß die beiden Taschen, die einsam und verlassen unter dem Sitz standen. Von Michael war nichts zu sehen. Joachim sah sich suchend um, aber er konnte Michael nirgends entdecken. Schnell eilte er zu den verlassenen Gepäckstücken und blickte sich nervös um. Vermutlich war Michael nur zur Toilette gegangen und hatte sich schlichtweg nichts dabei gedacht, die Taschen unbeaufsichtigt zurück zu lassen. Joachim setzte sich und wartete. Nach einigen Minuten wurde ihm schließlich klar, dass Michael nicht wiederkommen würde. Dass er nie mehr wiederkommen würde.
    Schwerfäl lig stand Joachim auf. Er ergriff seine Reisetasche und ging langsam zum Gate, von dem aus die Maschine nach Hamburg starten sollte. Michaels Gepäck ließ er einfach zurück. Im Warteraum setzte er sich auf den erstbesten freien Sitz und vergrub das Gesicht in den Händen. Die ersten Passagiere bestiegen das Flugzeug. Irgendwann forderten die Lautsprecher zum ersten Mal Herrn Michael Wohlert auf, umgehend ans Gate zu kommen. Joachim begann, geräuschlos zu weinen. Es folgte eine zweite und schließlich eine dritte Aufforderung, und so sehr Joachim sich auch wünschte, nichts zu hören: Die Stimme aus den Lautsprechern war zu laut, als dass er sie hätte überhören können. Eine Mitarbeiterin des Bodenpersonals sprach Joachim an. Sie fragte, ob er Hilfe benötige, ob sie einen Arzt rufen solle. Er winkte ab, ohne aufzusehen. Irgendjemand zog ungefragt Joachims Bordkarte aus seiner Hosentasche und geleitete ihn schließlich zum Flugzeug.
     
    *

 
    Joachim stand in der offenen Wohnungstür, exakt auf der Schwelle zwischen Haus- und Wohnungsflur. Es herrschte Stille, die Wohnung schien verlassen. Joachim ließ die Tasche zu Boden fallen und beförderte sie anschließend mit einem kräftigen Fußtritt in die Mitte des Flurs. Er verfolgte ihre kurze Flugbahn und starrte sie noch einige Sekunden lang abwesend an, dann trat er ein und schloss die Wohnungstür.
    Alle Zimmertüren waren geschlossen, bis auf eine: Die Schlafzimmertür war angelehnt. Joachim stieß sie weiter auf. Und tatsächlich: Carola schlief auf ihrer Seite des Ehebettes, Niklas auf Joachims und Daniel in der Mitte. Sie lagen unter der Tagesdecke und waren für den Tag angezogen. Die Vorhänge vor dem Fenster waren zugezogen. Joachim versuchte sich gar nicht erst vorzustellen, unter welchen Ängsten Carola die vergangene Nacht gelitten haben musste. Es war gut, dass sie jetzt schlief.
    Joachim trat ans Bett heran und betrachte Daniel. Soweit er es im Halbdunkeln erkennen konnte, atmete der Kleine friedlich und gleichmäßig, das Gesicht war entspannt. Das war gut, das war verdammt gut.
    Joachim ging in Daniels Zimmer. Bevor er das Mobile betrachtete, holte er tief Luft und machte sich für alles bereit. Als er schl ießlich hinsah, glaubte er, eine lange Messerklinge schob sich langsam und tief in seinen Magen.
    Das Mobile hing bewegungslos an seiner Schnur. Fünf Figuren sahen aus wie zuvor. Die sechste nicht. Ihre frischen Farben glänzten, der aufgemalte Mund war zu einem heiteren Lächeln geschwungen. Joachim starrte das Mobile an und dachte an nichts. Er fühlte sich wie ausgehöhlt.
    Irgendwann riss er das Mobile von der Decke, so wie er es schon einmal getan hatte, schwungvoll und mit einem kräftigen Ruck. Die Figuren tanzten und hüpften an ihren Fäden . Ansonsten geschah ... nichts. Joachim wusste, dass er eigentlich glücklich sein müsste, erleichtert, zufrieden. Doch er war es nicht, im Gegenteil - ihm war zum Heulen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher