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Mit verdeckten Karten

Mit verdeckten Karten

Titel: Mit verdeckten Karten
Autoren: Alexandra Marinina
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Ermittlungsarbeit ihn in ihre Gegend führte, Lena war das gewohnt und wäre nicht beleidigt gewesen, wenn er auch diesmal nur kurz geblieben wäre. Aber die Vorstellung, jetzt wieder hinauszugehen auf die dunkle, kalte Straße und mit seinem Kummer allein zu bleiben, erschien Platonow so schrecklich, daß er, wie so oft in seinem Leben, klein beigab.
    »Wenn du nichts anderes vorhast«, sagte er, sich innerlich verfluchend, »bleibe ich bis morgen.«
    Lena sah ihn erstaunt an und sagte nichts. Er blieb immer nur dann über Nacht bei ihr, wenn seine Frau Valentina nicht zu Hause war, wenn sie auf Dienstreise war, im Urlaub oder bei Freunden auf der Datscha. In solchen Fällen sagte er Lena immer vorher Bescheid, sie freuten sich stets auf diese Gelegenheiten und schmiedeten lange im voraus Pläne für die Abende und Nächte, die sie gemeinsam verbringen konnten. Diesmal hatte er nichts von einer bevorstehenden Reise seiner Frau gesagt, insofern war es verwunderlich, daß er über Nacht von zu Hause wegbleiben wollte.
    Platonow setzte sich in einen tiefen, weichen Sessel und schloß die Augen. Er lauschte Lenas Schritten und versuchte sich vorzustellen, was sie gerade machte. Sie ging aus dem Zimmer in die Küche, blieb stehen, öffnete und schloß die Kühlschranktür, zündete ein Streichholz an. Etwas klirrte leicht, und er sah präzise vor sich, wie Lena einen Topf aus dem Kühlschrank geholt, ihn auf den Herd gestellt und den Deckel des Topfes angehoben hatte, um für alle Fälle den Inhalt zu überprüfen. Sie besaß sechs völlig gleiche kleine Töpfe, alle rot mit weißen Punkten, sie liebte diese Töpfe heiß und innig und bewahrte in ihnen alles mögliche auf. Anfangs passierte es ein paarmal, daß sie einen Topf mit Suppe auf den Herd stellte und erst dann bemerkte, daß sie nicht Suppe, sondern Krautsalat aufgewärmt hatte. Jetzt warf Lena vorsichtshalber immer erst einen Blick in den Topf, allerdings tat sie das erst dann, wenn er schon auf der Gasflamme stand. Platonow verstand die Logik ihrer Handlungen nicht, aber er maß ihren Seltsamkeiten keine Bedeutung bei.
    Er hörte, wie das Backrohr geöffnet wurde, etwas klapperte, Lena hatte eine Pfanne auf den Herd gestellt. Wieder das Schlagen der Kühlschranktür, das Klappern und Klirren von Küchenutensilien in der Schublade, die mit einer raschen Bewegung geöffnet worden war. Danach vielversprechendes Zischen. Demnach hatte Lena Butter aus dem Kühlschrank und ein Messer aus der Schublade geholt, jetzt briet sie irgendein ungewöhnlich schmackhaftes Stück Fleisch für ihn. Mit geschlossenen Augen stellte er sich vor, wie sie sich zwischen Tisch und Herd hin und her bewegte, ihre weiche, runde Figur in dem weiten Pullover, die kleine Nase, die sie jedesmal kräuselte, wenn sie sich konzentrierte, das lange, schokoladenbraune Haar, das mit einem schlichten Band am Hinterkopf zusammengebunden war. Platonow verfügte über ein außerordentlich gutes Gehör, und diese Art, jemanden zu »belauschen«, bereitete ihm großes Vergnügen, weil so das logische Denken angeregt wurde, das Gedächtnis und die Phantasie.
    Während er den Geräuschen aus der Küche lauschte, spürte er, daß ihm etwas leichter wurde. Der Schmerz, den ihm Tarassows Tod bereitete, war unverändert, aber das Gefühl der Aussichtslosigkeit hatte nachgelassen.
    Nach dem Abendessen setzte sich Lena neben Platonow auf den Fußboden und legte ihren Kopf auf seine Knie.
    »Ich spüre doch, daß du irgendwelche Unannehmlichkeiten hast«, sagte sie leise. »Warum erzählst du mir nie etwas von dir? Hältst du mich immer noch für ein Kind?«
    »Nein, darum geht es nicht«, erwiderte er sanft, während er ihr seidiges Haar durch seine Finger gleiten ließ. »Ich will dich einfach nicht damit belasten.«
    »Aber warum denn?«
    »Wir haben schon tausendmal darüber geredet«, entgegnete Dmitrij geduldig. »Ich arbeite im Hauptkriminalamt zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens. Hast du eine Ahnung, was organisiertes Verbrechen ist? Liest du Bücher?«
    »Und sogar Zeitungen«, lachte Lena. »Willst du mir Angst einjagen?«
    »Ja, das will ich. Denn das alles ist ganz und gar nicht einfach und zudem sehr gefährlich. Und deine Lage ist doppelt problematisch. Ich glaube, über unser Verhältnis weiß ganz Moskau Bescheid, mit Ausnahme meiner Frau. Sollte man mich unter Druck setzen wollen, wird man an erster Stelle auf dich zurückgreifen. Und außer mir nichtsnutzigem Dummkopf ist da noch
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