Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mit verdeckten Karten

Mit verdeckten Karten

Titel: Mit verdeckten Karten
Autoren: Alexandra Marinina
Vom Netzwerk:
literarischen Geschmack haben, dann würde ich wirklich den Verstand verlieren, wenn ich wüßte, wie gefährlich du lebst. Was soll ich dir bringen? Willst du etwas trinken?«
    Sie erhob sich leichtfüßig und ging zum verglasten Teil der großen Schrankwand, wo die Schnaps- und Weingläser standen.
    »Was hast du denn?« wollte Platonow wissen.
    »Das, was du selbst mitgebracht hast. Du weißt doch, daß ich nie Alkohol kaufe. Da ist noch ein Rest Wodka, Cognac, Pfirsichlikör und noch irgendein Wein, ich glaube, Madeira. Was soll ich dir einschenken?«
    »Ich sollte tatsächlich ein Gläschen trinken«, sagte er. »Und wenn man auf«einen Toten trinkt, dann tut man das nur mit Wodka. Gut, gieß mir einen ein, aber nur einen ganz kleinen!«
    Lena füllte schweigend ein kleines Glas, brachte aus der Küche einen Teller mit einem schlichten Imbiß und stellte beides auf das kleine Tischchen vor dem Sessel, in dem Platonow saß.
    »Ist jemand gestorben?« fragte sie mit halblauter Stimme, fast flüsternd.
    »Ja, Liebste. Ein wunderbarer, erstaunlicher Mensch ist gestorben, der Mensch mit dem besten und reinsten Herzen, dem ich je begegnet bin. Friede seiner Seele!«
    Er kippte den Wodka hinunter, lehnte sich in den Sessel zurück und schloß die Augen.
    »War er ein Freund von dir?« fragte Lena, während sie das leere Glas vom Tischrand wegschob und sich wieder auf den Boden setzte.
    »So könnte man es sagen. Aber auch wieder nicht. Eigentlich kann ich ihn nicht meinen Freund nennen.«
    »Warum?«
    »Weil wir fast gar nichts voneinander wußten. Wenn du mich fragen würdest, wie er seine Frau kennengelemt hat, was er gern gegessen und ob er nachts in Farbe geträumt hat, könnte ich dir darauf keine Antwort geben. Freunde wissen gewöhnlich solche Dinge voneinander, aber ich habe nichts dergleichen von ihm gewußt und er nicht von mir.«
    »Was hat euch denn miteinander verbunden?«
    »Das ist schwer zu erklären, Lenotschka. Oft haben wir uns monatelang nicht gesehen und nicht einmal telefoniert, aber wenn wir zusammenkamen, hatte ich immer das Gefühl, einem Menschen zu begegnen, der mich niemals verraten würde. Niemals. Was immer geschehen würde. Gewöhnlich denkt man das nur von einem Freund, den man sehr nah und sehr lange kennt. Aber er war nicht mein Freund. Er war einfach nur . . . Nein, ich kann dir das nicht erklären. Es tut weh, es fühlt sich an wie eine schmerzende Beule, aber mit Worten kann ich es nicht beschreiben. Ich werde es schwer haben ohne ihn.«
    »Aber warum denn?« fragte Lena, die immer auf logischen, endgültigen Aussagen bestand, hartnäckig nach. »In welcher Hinsicht wirst du es schwer haben, wenn ihr euch so selten gesehen habt und keine Freunde wart? Was wird dir fehlen ohne ihn?«
    Idiot, schimpfte Platonow sich innerlich. Warum konntest du deine Zunge nicht im Zaum halten? Sentimentaler Esel.
    »Achte nicht auf mein Geschwätz!« sagte er ausweichend, beugte sich zu Lena hinab und umarmte sie. »Er war ein guter Mensch, und es tut mir leid, daß er gestorben ist. Das ist alles.«
    Er warf einen heimlichen Blick auf die Uhr. Zum Glück war es bereits halb elf, Zeit, ins Bett zu gehen. Er war trotzdem froh, daß er bei Lena geblieben war. Es hatte seiner Seele Luft machen, laut aussprechen müssen, was ihn bedrückte. Und er hatte seines Freundes gedenken müssen. Nicht heimlich, indem er sich zu Hause hinter der Kühlschranktür ein Glas Wodka eingeschenkt und den Mund mit dem Ärmel abgewischt hätte, sondern offen und sichtbar für einen anderen Menschen, er hatte ein paar gute und aufrichtige Worte über den Toten sagen müssen, und diese Worte hatte unbedingt jemand hören müssen. Das war geschehen, und jetzt fühlte er sich tatsächlich erleichtert.
    6
    Die weiträumigen, feudalen Chefbüros gehörten der Vergangenheit an, jetzt waren kleine, gemütliche Arbeitsräume in Mode. Auf den leichten, schwarzen Ecktischen, die die schweren, verschnörkelten, mit grünem Tuch bespannten Eichenmonster abgelöst hatten, standen Computer, und anstelle der gesammelten Werke der Klassiker des Marxismus-Leninismus drängten sich in den Hängeregalen und Bücherschränken jetzt Fachbücher über Wirtschaft, Finanzwesen und Computer-Technologie. Keinen geringen Raum nahmen auch juristische Nachschlagewerke und fremdsprachliche Bücher ein.
    Vitalij Wassiljewitsch Sajnes betrat das Büro, schleuderte seinen Mantel achtlos auf den Besuchersessel, setzte sich, ohne Licht gemacht zu haben, an
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher