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Mit verdeckten Karten

Mit verdeckten Karten

Titel: Mit verdeckten Karten
Autoren: Alexandra Marinina
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bei demselben Gedanken angelangt: Wie sollte er ohne Jurij Jefimowitsch zurechtkommen?
    Nachdem der erste Anfall von Verzweiflung vorüber war, überrollte ihn eine Welle des Mitleids. Und erst dann, erst an dritter Stelle kam ihm die Frage in den Sinn: Wer ist es gewesen? Wer hat ihn umgebracht, und warum?
    5
    Die Last, die ihm auf der Seele lag, wurde immer drückender. Nach der Arbeit fuhr Platonow nicht nach Hause, sondern zu Lena. Bei ihr erholte und entspannte er sich, in ihrer Nähe wurde er weich wie Wachs. Er kannte Lena seit vielen Jahren, schon seit der Zeit, als sie noch mit einem Ranzen und riesigen Schleifen im Haar zur Schule ging und noch nicht Lena für ihn war, sondern einfach die kleine Schwester seines Freundes und Kollegen Sergej Russanow. Platonow heiratete, hatte zahllose, meist kurze Affären, bis er eines Tages die Schwester seines Freundes wiedersah. Sie war nicht mehr das kleine Mädchen von damals, sondern eine bezaubernde junge Frau. Was dann passierte, war nichts Ungewöhnliches, es kam oft vor. Allerdings wäre die Freundschaft zu Sergej beinah daran zerbrochen.
    »Laß das Mädchen in Ruhe!« schrie Russanow ihn an. »Du wirst sie sowieso nicht heiraten. Aber sie wird auf dich warten und dabei alt und grau werden.«
    Natürlich hatte Russanow recht. Um Lena heiraten zu können, hätte Platonow sich scheiden lassen müssen. Dafür aber fehlte ihm die moralische Stärke, das wußte nicht nur Sergej, sondern auch er selbst sehr gut. Er war ein sehr offener, kontaktfreudiger Mensch, der über eine große männliche Anziehungskraft verfügte, und er verhielt sich seiner Frau gegenüber genauso wie in den ersten Monaten nach der Hochzeit. Er glaubte mit heiligem Ernst daran, daß das Ende der Verliebtheit die Menschen nicht zu Feinden machte, daß man auch dann, wenn man beim Anblick seiner Ehefrau nicht mehr erzitterte vor Wonne und Leidenschaft, ein zärtlicher Ehemann bleiben konnte, der seine Frau mit Geschenken und anderen Aufmerksamkeiten verwöhnte. Er war mit seiner Ehefrau sehr zufrieden, ebenso wie mit seinen Affären, die ein paar Stunden dauern konnten, ein paar Wochen, gelegentlich sogar ein paar Monate. Und es war ihm unvorstellbar, seine Frau Valentina, mit der er fast täglich schlief, aus heiterem Himmel zu verlassen. Mit Lena allerdings war alles anders. Lena liebte er. Aber er liebte sie nicht genug, um deshalb seiner Frau weh zu tun.
    »Ich liebe sie, Serjosha«, sagte er sehr ernst. »Du kannst mich umbringen, aber ich kann nichts dagegen tun. Und sie liebt mich auch. Wenn Lena und ich uns trennen, werden wir beide leiden. Und du willst doch nicht, daß deine Schwester leidet, oder?«
    »Du Schweinehund!« brüllte Sergej ihn an. »Warum hast du überhaupt etwas mit ihr angefangen, wenn du gewußt hast, daß du dich sowieso nicht scheiden läßt? Ist sie etwa eine Schlampe, ein Mädchen für eine Nacht? Was hast du dir dabei gedacht?«
    Lena weinte und flehte die beiden an, sich nicht zu streiten. Sie liebte Dmitrij, und sie liebte ihren Bruder, jeden auf andere Weise, aber beide gleich stark.
    »Ich will gar nicht heiraten«, versuchte sie ihren Bruder zu überzeugen. »Mir ist es recht so, wie es ist. Ich will Dima einfach nur lieben, verstehst du? Ich könnte ohne ihn nicht leben.«
    Sergej ging weg, schlug mit den Türen und sprach wochenlang weder mit seiner Schwester noch mit Platonow. Aber nach und nach entspannte sich die Situation, sie wurde zur Gewohnheit, Russanow beruhigte sich. Hauptsache, Lena war glücklich.
    Platonow schloß die Tür mit seinem Schlüssel auf und hörte sofort das Geräusch leichter, schneller Schritte. Lena kam auf den Flur herausgelaufen und fiel ihm um den Hals.
    »Dima! Liebster! Wie schön, daß du da bist.«
    Während Platonow sie umarmte und den bekannten Geruch ihrer Haut und ihres Parfums einatmete, bereute er es fast, daß er heute zu ihr gekommen war. Sie hatte lange auf ihn gewartet und freute sich so, aber er würde ihr nur die Stimmung verderben. Er fühlte sich miserabel und hatte keine Lust auf Gespräche.
    »Bleibst du länger?« fragte Lena und sah ihm in die Augen. Jetzt könnte ich noch zurücktreten, dachte Platonow. Nein, nur für einen Moment, könnte ich sagen, ich habe leider sehr viel zu tun. Ich bin zufällig in deiner Gegend und wollte nur schnell mal reinschauen. Mach mir eine Tasse Tee und ein belegtes Brot, dann muß ich wieder weiter. Er kam oft nur auf einen Sprung bei ihr vorbei, wenn die
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