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Mit verdeckten Karten

Mit verdeckten Karten

Titel: Mit verdeckten Karten
Autoren: Alexandra Marinina
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es sich nicht nehmen lassen würde, auch die Küche in den Zustand zu bringen, den er würdevoll nannte.
    Am zweiten Tag, als Jurij Jefimowitsch hörte, wie Irina ihren Sohn am Telefon fragte, ob er mit dem Hund draußen gewesen sei, reagierte er prompt:
    »Was für einen Hund haben Sie, Irotschka? Ich selbst habe drei Schäferhunde, ich werde Sie darüber aufklären, wie man richtig mit Hunden umgeht.«
    Drei Schäferhunde! Nicht schlecht. Gab es überhaupt irgendeinen Bereich des Lebens, in dem Jurij Jefimowitsch sich nicht für einen Experten hielt? Wenn Swetlana niesen mußte, erklärte er ihr weitschweifig, wie man Erkältungen auskuriert, wenn Irina ihren Sohn anrief, belehrte er sie darüber, wie man mit einem Siebzehnjährigen umgehen muß, um ihn im Zaum zu halten, ohne ihn allzusehr einzuengen, und wenn Igor Sergejewitsch Schulgin, der Abteilungsleiter, sich an den Computer setzte, hatte sein Stellvertreter sofort Ratschläge hinsichtlich der gymnastischen Übungen parat, die man bei sitzender Tätigkeit alle vierzig Minuten ausführen muß.
    »Was eßt ihr denn für einen Mist?!« empörte sich Tarassow, wenn er sah, wie die Damen in der Mittagspause Kaffee tranken und Kartoffelchips dazu aßen. »Wir haben doch eine Kochplatte. Ich werde einen Topf mitbringen und Suppen für euch kochen.«
    »Jetzt reicht es!« schimpfte Schulgin. »Das geht zu weit. Unangemessene Gerüche erlaube ich nicht in der Protokollabteilung. Wir bekommen den ganzen Tag Besuch von Ausländern. Das Büro muß würdevoll riechen.«
    Dieses Argument ließ Tarassow gelten und bemerkte nicht einmal das spöttische Lächeln im Gesicht des Abteilungsleiters.
    Den ganzen dritten Tag verbrachte Jurij Jefimowitsch mit dem Sichten und Sortieren der Nationalflaggen, die bei Besprechungen auf dem Tisch aufgestellt wurden. Die Flaggen lagen in einem chaotischen Haufen in dem eigens dafür vorgesehenen Schrank. Eigentlich war es Swetlanas Aufgabe, sie in Ordnung zu halten, doch sie war nicht so ordentlich und pflichtbewußt wie Irina, und in letzter Zeit hatte sie die Flaggen überhaupt vergessen, da ihre Gedanken nur noch darum kreisten, daß ihr Mann sie betrog. Deshalb herrschte in dem Schrank mit den Symbolen für Freundschaft und Zusammenarbeit katastrophale Unordnung.
    Heute, am Freitag, dem 24. März 1995, beendete Jurij Jefimowitsch Tarassow seinen vierten Arbeitstag als stellvertretender Abteilungsleiter. Irina war soeben aus der Visa-Abteilung zurückgekehrt, und die Ohnmacht, der sie nahe war, als sie ihren aufgeräumten Schreibtisch erblickte, hätte ihren Arbeitstag, der am Freitag früher als sonst zu Ende ging, zu einem würdevollen Abschluß bringen können.
    2
    Nastja Kamenskaja verspürte den Druck eines harten Knies in ihrem Rücken.
    »Die Hände hinter den Kopf, die Finger im Nacken verschränken«, befahl ihr eine männliche Stimme.
    Sie führte den Befehl gehorsam aus. Zwei starke warme Hände umfaßten die ihren.
    »Und jetzt sagen Sie bitte ›Mama‹.«
    »Ma . . . Au!!!«
    Der Schmerz durchfuhr sie wie ein Blitz.
    »Schon vorbei«, beruhigte sie der Masseur. »Es ist nichts Schlimmes passiert, ich habe Ihnen nur die Wirbel eingerenkt. Jetzt wird es weniger weh tun. Sie können wieder aufstehen.«
    Nastja erhob sich von der Liege und begann, sich anzuziehen.
    »Und wie lange wird der Erfolg Ihrer Behandlung anhalten?« fragte sie, während sie in ihre Jeans schlüpfte.
    »Das kommt auf Sie an«, erwiderte der Masseur mit einem listigen Lächeln. »Sie leiden einerseits an einem verschleppten Wirbelsäulenschaden, und andererseits sitzen Sie zuviel. Den Schaden können wir nicht mehr beheben, dafür ist es zu spät, aber ein erneuter Bandscheibenvorfall läßt sich durch Gymnastik vermeiden.«
    »Um Himmels willen!« rief Nastja aus. Allein der Gedanke an gymnastische Übungen brachte sie zum Schwitzen. Sie hatte nie im Leben irgendeinen Sport betrieben und machte noch nicht einmal Frühgymnastik. Dafür war sie viel zu faul.
    »Warum denn gleich so abwehrend?« erkundigte sich der Masseur, ein sehniger, nicht allzu großgewachsener Bursche mit einer etwas schiefen Nase und einem fröhlichen Lächeln. »Dafür brauchen Sie gar nicht viel Zeit, ganze fünf bis sieben Minuten, das allerdings mindestens dreimal pro Tag. Das müßte doch zu machen sein, oder?«
    »Nein.« Nastja schüttelte entschieden den Kopf. »Ich bin zu faul und würde es ständig vergessen.«
    »Dann müssen Sie Ihre Lebensweise ändern«, riet der
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