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Mit verdeckten Karten

Mit verdeckten Karten

Titel: Mit verdeckten Karten
Autoren: Alexandra Marinina
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arbeiten.«
    »Weiche mir nicht aus«, entgegnete die Koroljowa verärgert. »Die anderen interessieren mich nicht. Ich habe dich nach deiner Einstellung mir gegenüber gefragt. Wir waren in einer Studiengruppe, haben zusammen fürs Examen gepaukt und unsere Einser im ›Kosmos‹ und im Cafe ›Lichter von Moskau‹ gefeiert. Hast du das vergessen?«
    »Nein, das habe ich nicht vergessen.«
    Nastja strich die lange Säule ihrer Zigarettenasche am Rand des Untertellers ab, nachdem sie vorher die Tasse mit dem schwarzen Kaffeesatz beiseite gestellt hatte. Das Gespräch wurde anstrengend und unangenehm, aber es ließ sich nicht vermeiden. Das hatte sie bereits gewußt, als sie beschlossen hatte, selbst ins Zentrum zu fahren und sich mit den Mitarbeitern der Protokollabteilung zu unterhalten.
    Sie sah Irina an und wunderte sich über sich selbst. Sie hatte kaum noch eine Erinnerung an diese Frau. Oder war es einfach so, daß sie sie schlecht gekannt hatte? Jedenfalls saß jetzt vor ihr nicht der Mensch, den zu treffen sie erwartet, den sie in ihren Erinnerungen an die Zeit von vor über zwölf Jahren vor sich gesehen hatte. Irina war im siebten Monat schwanger gewesen, als sie zu studieren angefangen hatte. Sie kam bis zum letzten Tag zu den Vorlesungen, man brachte sie direkt aus dem Vorlesungssaal ins Krankenhaus. Sie nahm keinen Mutterschaftsurlaub, legte zusammen mit den anderen die Prüfungen am Ende des Semesters ab, zum Erstaunen aller mit ausgezeichnetem Erfolg. Wobei die bei der Prüfung Anwesenden schworen, daß sie alle Fragen tatsächlich brillant beantwortet hatte und die Einser nicht etwa ein Mitleidsbonus für eine stillende Mutter waren. Im Laufe von fünf Jahren gelang es Irina Koroljowa, das Studium mit der Erziehung ihres Kindes zu vereinbaren, obwohl niemand wußte, wie sie das machte und was es sie kostete. Es hieß, sie sei mit irgendeinem außergewöhnlichen Mann verheiratet, der genug verdiente, um eine Köchin, eine Putzfrau und eine Kinderfrau zu finanzieren. Andere behaupteten, daß für das alles nicht ihr Ehemann aufkam, sondern ihr hochgestellter Vater. Wiederum andere glaubten zu wissen, daß alles viel einfacher war. Irina hatte ihr Kind bei ihrer Mutter abgegeben, so, wie viele junge Mütter das machten, um studieren zu können, und daß es gar keinen Haushalt und keinen Ehemann gab, für den sie hätte sorgen müssen. Wie es in Wirklichkeit gewesen war, wußte Nastja nicht, weil sie das nicht sonderlich interessiert hatte. Sie hatte Irina nie nach ihrem Sohn oder nach einem etwaigen Ehemann gefragt, die beiden unterhielten sich hauptsächlich über ihre Studienfächer, über ihre Kommilitonen und Professoren, über Bücher und Filme. Sie hatten einander gemocht, aber es hatte nie wirkliche Freundschaft oder Nähe zwischen ihnen gegeben.
    Als Nastja Irina Koroljowa jetzt ansah, begriff sie, daß sie sie überhaupt nicht kannte. Was war mit ihr geschehen, wie war es möglich, daß alles, was sie fünf Jahre lang auf sich genommen, wofür sie so gekämpft hatte, im ständigen Spagat zwischen Studium und Familie, schließlich für die Katz gewesen war? Wofür hatte sie all diese Opfer gebracht? Oder hatte es gar keine Opfer gegeben? Das schien ausgeschlossen, da sie nach amtlichen Unterlagen seit 1975 verheiratet war und 1977 ein Kind geboren hatte. Aus denselben Unterlagen ging hervor, daß sowohl ihr Mann als auch ihre Eltern ganz gewöhnliche Leute waren, daß von großem Geld nicht die Rede sein konnte und deshalb auch nicht von Köchinnen, Haushälterinnen und Kinderfrauen. Insofern mußte Irina nicht nur über ausgezeichnete Begabungen verfügen, sondern auch über große Zähigkeit, Energie und Zielstrebigkeit. Was also war geschehen? Warum saß sie nach zwölfeinhalb Jahren auf dem zwar hochbezahlten, aber denkbar langweiligen Posten einer Sachbearbeiterin, der weder ein Studium der Jurisprudenz noch sonst irgendeine höhere Ausbildung erforderte?
    »Verstehst du, Irina, ich bin als Kriminalistin hier, und ich habe nicht das Recht, Privates mit Beruflichem zu vermischen. Wenn die Naumenko an deiner Stelle wäre, würde ich an erster Stelle sie verdächtigen. Die Tatsache, daß wir einander kennen, hat in diesem Zusammenhang keine Bedeutung. Es ist mir unangenehm, dir das zu sagen, aber ich muß das tun, damit keine Mißverständnisse zwischen uns entstehen. Die Verdachtsmomente gegen dich sind ziemlich schwerwiegend, aber nicht schwerwiegender als die gegen Swetlana oder Schulgin,
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